Ein idealer Gatte

Schauspiel in vier Akten

Oscar Wilde

https://www.projekt-gutenberg.org/wilde/idegatte/idegatte.html

Personen
Rolle Alias Beschreibung Einsätze
1 Earl of Caversham Lord Caversham Ritter des Hosenbandordens m 76
2 Viscount Goring Lord Goring Sohn des Earl of Caversham m 337
3 Sir Robert Chiltern Baronett, Unter-Staatssekretär im Auswärtigen Amte m 192
4 Vicomte de Nanjac Attaché der französischen Gesandtschaft in London m 8
5 Mr. Montfort m 3
6 Mason Kellermeister bei Sir Robert Chiltern m 9
7 Phipps Diener bei Lord Goring m 33
8 James Lakai m 4
9 Harold Lakai m 1
10 Lady Chiltern f 136
11 Lady Markby f 29
12 Die Gräfin Basildon Lady Basildon f 21
13 Mrs. Marchmont f 22
14 Mabel Chiltern Sir Roberts Schwester f 86
15 Mrs. Cheveley f 167

Frank Harris, dem kraftvollen, ausgezeichneten Künstler,
dem ritterlichen, edeldenkenden Freunde
als ein geringes Zeichen seiner Dankbarkeit.

O. W.

Erster Akt

Der achteckige Salon im Hause Sir Robert Chilterns, Grosvenor Square. Der Salon – taghell beleuchtet – von Gästen überflutet. Auf dem obersten Absatz der Treppe Lady Chiltern, der Typus ernster, griechischer Schönheit, im Alter etwa von siebenundzwanzig Jahren. Die Lady empfängt die Gäste bei ihrer Ankunft. Im Stiegenhaus ein schwerer Kronleuchter mit brennenden Kerzen, ihr Licht fällt auf einen mächtigen Gobelin aus dem achtzehnten Jahrhundert, der die Wand des Stiegenhauses einnimmt. Er stellt den »Triumph der Liebe« nach einer Zeichnung von Boucher dar. Rechts Eingang zum Musikzimmer. Man hört die gedämpften Töne eines Streichquartettes. Links führt der Eingang zu andern Empfangsräumen. Mrs.Marchmont und Lady Basildon, zwei auffallend hübsche Frauen, von der Zartheit feiner Nippesfiguren, auf einem Sofa Louis XVI. Das Preziöse in ihrem Wesen hat einen gewissen pikanten Reiz. Watteau hätte die beiden mit Vergnügen gemalt.

Mrs. Marchmont: Gehst du heute abend noch zu Hartlocks, Margarete?

Lady Basildon: Vielleicht. Und du?

Mrs. Marchmont: Ja. Ihre Soireen sind gräßlich langweilig, findest du nicht auch?

Lady Basildon: Gewiß. Ich weiß nicht, warum ich hingehe. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich irgendwohin gehe.

Mrs. Marchmont: Zu den Chiltern komme ich, um mich zu bilden.

Lady Basildon: Ich hasse Bildung.

Mrs. Marchmont: Ich auch. Sie bringt einen fast auf dasselbe Niveau mit Gevatter Schneider und Handschuhmacher, nicht? Aber die gute Gertrud Chiltern predigt mir immer, ich müsse mir einen seriösen Lebenszweck suchen. So komme ich denn hierher ins Haus und trachte, ihn zu finden.

Lady Basildon die Gesellschaft lorgnettierend: Ich bemerke heute niemand hier, der auch nur annähernd die Bezeichnung »Lebenszweck« verdiente. Mein Tischherr hat mich die ganze Zeit nur über seine Frau unterhalten.

Mrs. Marchmont: Zu geschmacklos!

Lady Basildon: Schauderhaft! Und worüber hat dein Tischherr denn gesprochen?

Mrs. Marchmont: Über mich.

Lady Basildon matt: Und hat dich das interessiert?

Mrs. Marchmont den Kopf schüttelnd: Nicht im geringsten.

Lady Basildon: Was für Märtyrer wir sind, Margarete!

Mrs. Marchmont sich erhebend: Und wie gut das kleidet, Oliva! Sie stehen auf und gehen auf das Musikzimmer zu. Der Vicomte de Nanjac, ein junger Attaché, ebenso berühmt wegen seiner Krawatten, wie wegen seiner Anglomanie, nähert sich ihnen mit einer tiefen Verbeugung und zieht sie in ein Gespräch.

Mason vom Treppenabsatz Gäste ankündigend: Mr. und Lady Jane Barford. Lord Caversham.

Lord Caversham, ein Greis von siebzig Jahren, tritt ein; er trägt den Hosenbandorden mit dem Stern. Feiner Whigtypus, erinnert lebhaft an die Porträte von Lawrence.

Lord Caversham: Guten Abend, Lady Chiltern! Ist mein Söhnchen, der Taugenichts, schon da?

Lady Chiltern lächelnd: Ich glaube nicht, daß Lord Goring schon erschienen ist.

Mabel Chiltern auf Lord Caversham zukommend: Warum nennen Sie Lord Goring einen Taugenichts?

Mabel Chiltern ist das Prototyp vollendeter englischer Schönheit, Typus Apfelblüte. Auf ihr ruht der Duft und die natürliche Anmut einer Blume. Leuchtendes, gewelltes Haar, der kleine Mund mit seinen geöffneten Lippen erwartungsvoll wie der eines Kindes. Sie besitzt das faszinierend Tyrannische der Jugend und die hinreißende Unbefangenheit der Unschuld. Bei Menschen mit gesundem Denken erweckt sie keine Reminiszenz an irgendein Kunstwerk. Aber eigentlich gleicht sie doch einer Tanagrafigur. Sagte man ihr das – sie wäre recht ungehalten.

Lord Caversham: Weil er sein Leben so müßig verbringt.

Mabel Chiltern: Wie können Sie das sagen? Er reitet doch um zehn Uhr morgens in den Hyde-Park, geht dreimal die Woche in die Oper, wacht mindestens fünfmal täglich Toilette und diniert während der Saison allabendlich auswärts. Und das nennen Sie ein müßiges Leben?

Lord Caversham betrachtet sie mit gutmütigem Augenzwinkern: Sie sind eine entzückende junge Dame!

Mabel Chiltern: Wie liebenswürdig, mir das zu sagen, Lord Caversham! Besuchen Sie uns doch öfter. Sie wissen, daß wir jeden Mittwoch empfangen, und Sie machen mit Ihrem Stern so gute Figur!

Lord Caversham: Ich mache jetzt nirgends mehr Besuche, ich habe die Londoner Gesellschaft übersatt. Ich hätte ja nichts dagegen, bei meinem Schneider eingeführt zu werden, er wählt wenigstens wie sich's gehört; aber dagegen möchte ich mich energisch verwahren, die Modistin meiner Frau zu Tische führen zu müssen. Ich habe Lady Cavershams Hüte nie vertragen.

Mabel Chiltern: Oh, ich schwärme für die Londoner Gesellschaft! Ich finde, daß sie sich sehr zu ihrem Vorteil verändert hat. Jetzt besteht sie nur mehr aus dummen Beaux und geistreichen Narren. Genau so, wie die Gesellschaft sein soll.

Lord Caversham: Hm! Und was ist Lord Goring? Dummer Beau oder das andere?

Mabel Chiltern ernst: Lord Goring habe ich bis heute in eine ganz spezielle Klasse einreihen müssen. Aber er entwickelt sich ausgezeichnet.

Lord Caversham: Wozu?

Mabel Chiltern mit einer kleinen Verbeugung: Das hoffe ich Ihnen bald sagen zu können, Lord Caversham!

Mason Gäste ankündigend: Lady Markby. Mrs. Cheveley.

Lady Markby und Mrs. Cheveley treten ein. Lady Markby, eine liebenswürdige, freundliche, einfache Frau mit grauem Haar à la Marquise, echte Spitzen. Mrs. Cheveley, die sie begleitet, ist groß und ziemlich schmächtig. Sehr dünne, stark gefärbte Lippen, eine Spur von Rouge auf dem blassen Gesicht. Venetianerrotes Haar, Adlernase, langer Hals. Die Schminke hebt noch die natürliche Blässe ihres Gesichtes. Grau-grüne Augen, die rastlos umherwandern. Toilette Heliotrop mit Brillanten. Mrs. Cheveley mit ihrer orchideenhaften Erscheinung muß jedermanns Interesse erregen. Zu allen ihren Bewegungen ist sie außerordentlich graziös. Alles in allem ein Kunstwerk, aber man merkt den Einfluß zu vieler Schulen.

Lady Markby: Guten Abend, liebe Gertrud! Es war sehr freundlich von Ihnen, mir zu erlauben, meine Freundin, Mrs. Cheveley, mitzubringen. Zwei so entzückende Frauen müssen einander kennenlernen.

Lady Chiltern geht Mrs. Cheveley mit liebenswürdigem Lächeln entgegen. Dann bleibt sie plötzlich stehen und verbeugt sich ziemlich zurückhaltend: Mir scheint, daß Mrs. Cheveley und ich einander schon früher begegnet sind. Ich wußte nicht, daß sie ein zweites Mal geheiratet hat.

Lady Markby heiter: Ach, heutzutage heiraten die Leute so oft sie können, nicht wahr? Das ist höchster Schick. Zur Herzogin von Maryborough: Liebe Herzogin, wie geht's dem Herzog? Im Kopf vermutlich noch immer schwach? Das war ja nur zu erwarten, nicht wahr? Sein guter Vater war gerade so, es geht doch nichts über die Rasse, nicht wahr?

Mrs. Cheveley mit ihrem Fächer spielend: Aber sind wir wirklich einander schon einmal begegnet, Lady Chiltern? Ich kann mich nicht erinnern, wo das gewesen wäre, ich war so lange weg von England.

Lady Chiltern: Wir haben zusammen die Schule besucht, Mrs. Cheveley.

Mrs. Cheveley hochmütig: Wirklich? Meine Schulzeit habe ich schon ganz vergessen, ich erinnere mich nur undeutlich, daß sie ekelhaft war.

Lady Chiltern kühl: Das wundert mich nicht!

Mrs. Cheveley in ihrem süßesten Ton: Lady Chiltern, ich bin außerordentlich gespannt darauf, Ihren geistreichen Herrn Gemahl kennenzulernen. Seitdem er im Auswärtigen Amt ist, spricht man in Wien so viel von ihm. Die Zeitungen können sogar schon seinen Namen richtig schreiben. Dazu gehört auf dem Kontinent Berühmtheit.

Lady Chiltern: Ich glaube kaum, daß sich zwischen Ihnen und meinem Gatten irgendein Berührungspunkt finden wird, Mrs. Cheveley. Entfernt sich.

Vicomte de Nanjac: Oh, chère Madame, quelle surprise! Seit Berlin habe ich Sie nicht mehr gesehen!

Mrs. Cheveley: Seit Berlin, Vicomte! Das sind fünf Jahre!

Vicomte de Nanjac: Und dabei sind Sie jünger und schöner als je. Wie stellen Sie das an?

Mrs. Cheveley: Indem ich mich prinzipiell nur mit so durch und durch reizenden Menschen unterhalte, wie Sie zum Beispiel sind.

Vicomte de Nanjac: Oh, Sie schmeicheln. Sie schmieren mir Honig um den Mund, wie man hier sagt.

Mrs. Cheveley: Sagt man das hier wirklich? Das ist ja abscheulich!

Vicomte de Nanjac: Ja, sie haben hier eine herrliche Sprache, sie sollte mehr bekannt sein.

Sir Robert Chiltern tritt ein. Ein Mann in den Vierzigern, aber jünger aussehend. Glatt rasiert, feingeschnittene Züge, dunkle Haare und Augen. Eine markante Persönlichkeit. Kein populärer Mann – dazu ist er zu viel Persönlichkeit. Aber von den Engeren seines Kreises wird er aufs höchste bewundert, vom großen Publikum sehr geachtet. Seine Note ist vollendete Distinktion mit einem leichten Anflug von Stolz. Man fühlt, daß er sich seines Erfolges bewußt ist. Nervöses Temperament, müder Blick. Kinn und Mund, hart geschnitten, bilden einen auffallenden Kontrast zum romantischen Ausdruck der tiefliegenden Augen. Dieser Gegensatz läßt auf eine fast völlige Trennung von Leidenschaft und Urteilskraft schließen, als ob Gedanken und Gefühle mit einem starken Aufgebot an Willenskraft in getrennte Sphären versetzt wären. Nervös zitternde Nasenflügel, feine, schlanke Hände. Es wäre falsch, Sir Robert Chiltern schön im malerischen Sinne zu nennen. Für Malerisch-Schönes ist das Parlament nicht der richtige Ort; aber Van Dyck hätte seinen Kopf gerne porträtiert.

Sir Robert Chiltern: Guten Abend, Lady Markby! Hoffentlich haben Sie Sir John mitgebracht?

Lady Markby: Oh, ich habe eine viel reizendere Person mitgebracht, als Sir John! Sir Johns Laune ist direkt unerträglich geworden, seitdem er sich seriös mit Politik befaßt. Jetzt, wo das Parlament versucht, sich nützlich zu betätigen, stiftet es nichts als Schaden.

Sir Robert Chiltern: Hoffentlich nicht, Lady Markby! Jedenfalls tun wir unser Möglichstes dazu, um die Zeit aufs beste zu vertrödeln, nicht wahr? Wer ist aber die reizende Person, die mitzubringen Sie so gütig waren?

Lady Markby: Ihr Name ist Mrs. Cheveley, von den Dorsetshire Cheveleys, glaube ich. Genau weiß ich es wirklich nicht. Heutzutage mischen sich die Familien zu sehr. Am Ende erweist sich jeder als jemand anders.

Sir Robert Chiltern: Mrs. Cheveley? Der Name kommt mir bekannt vor.

Lady Markby: Sie ist eben erst aus Wien angekommen.

Sir Robert Chiltern: Ach ja! Jetzt glaube ich zu wissen, wen Sie meinen.

Lady Markby: Sie kommt dort überall herum und weiß die entzückendsten Skandälchen von allen ihren Freunden. Ich muß wirklich nächsten Winter nach Wien gehen. Hoffentlich ist bei der Botschaft ein angenehmer Chef.

Sir Robert Chiltern: Wenn nicht, so wird man den Botschafter sicher abberufen. Ich bitte, zeigen Sie mir Mrs. Cheveley, ich möchte sie gerne sehen.

Lady Markby: Erlauben Sie mir, Sie vorzustellen. Zu Mrs. Cheveley. Liebe Mrs. Cheveley, Sir Robert Chiltern vergeht vor Sehnsucht, Sie kennen zu lernen.

Sir Robert Chiltern sich verbeugend: Jedermann vergeht vor Sehnsucht, die entzückende Mrs. Cheveley kennen zu lernen. Unsere Attachés berichten uns schon über nichts anderes mehr.

Mrs. Cheveley: Meinen Dank für das Kompliment, Sir Robert. Eine Bekanntschaft, die mit einem Kompliment beginnt, muß unbedingt mit echter Freundschaft enden. Sie beginnt auf die richtige Art. Eben mache ich auch die Entdeckung, daß ich Lady Chiltern bereits kenne.

Sir Robert Chiltern: Wirklich?

Mrs. Cheveley: Jawohl. Sie hat mich vor einigen Minuten daran erinnert, daß wir zusammen die Schule besucht haben. Ich erinnere mich jetzt auch genau daran. Sie erhielt immer den Preis für gutes Betragen.

Sir Robert Chiltern lächelnd: Und wofür haben Sie Preise bekommen, Mrs. Cheveley?

Mrs. Cheveley: Meine Preise habe ich erst später im Leben errungen. Für gutes Betragen glaube ich nicht – ich weiß es nicht mehr.

Sir Robert Chiltern: Sicher waren es Preise für irgend etwas Scharmantes!

Mrs. Cheveley: Ich wüßte nicht, daß man die Frauen stets für ihren Scharm belohnt. Ich glaube sogar eher, daß man sie zumeist dafür bestraft. Sicher ist, daß heutzutage die Frauen durch nichts so alt gemacht werden, wie durch die Ausdauer ihrer Anbeter. Sonst wüßte ich mir keinen andern Grund dafür, warum die meisten hübschen Frauen Londons so schrecklich abgehärmt aussehen.

Sir Robert Chiltern: Wie trist diese Philosophie klingt! Sie, Mrs. Cheveley, klassifizieren zu wollen, wäre geradezu unverfroren; aber darf ich fragen, ob Sie in Ihrem innersten Herzen Optimistin oder Pessimistin sind!? Optimismus und Pessimismus scheinen die beiden einzigen fashionablen Bekenntnisse zu sein, die uns modernen Menschen noch geblieben sind.

Mrs. Cheveley: Oh, ich bekenne mich zu keinem von beiden. Der Optimismus beginnt mit breitem Grinsen, und der Pessimismus endet mit blauen Brillen. Übrigens ist beides nichts als Pose.

Sir Robert Chiltern: Sie ziehen also Natürlichkeit vor?

Mrs. Cheveley: Zuweilen. Aber auch das ist eine Pose, die man nur schwer durchführt.

Sir Robert Chiltern: Was würden die modernen psychologischen Schriftsteller, von denen man so viel hört, zu einer derartigen Theorie sagen?

Mrs. Cheveley: Darin liegt ja eben die Stärke der Frau, daß die Psychologie für sie keine Erklärung findet. Männer kann man erklären, Frauen – nur verehren.

Sir Robert Chiltern: Sie glauben also, daß die Wissenschaft das Problem der Frau nicht zu lösen vermag?

Mrs. Cheveley: Die Wissenschaft kann Irrationellem niemals beikommen. Deshalb blüht ihr auch in dieser Welt keine Zukunft.

Sir Robert Chiltern: Und die Frau repräsentiert das Irrationelle?

Mrs. Cheveley: Jedenfalls die elegante Frau.

Sir Robert Chiltern mit einer höflichen Verbeugung: Ich fürchte. Ihnen darin nicht beistimmen zu können. Aber nehmen Sie doch gefälligst Platz. Und sagen Sie, bitte, was Sie dazu veranlaßt hat, ihr lachendes Wien mit unserem nebligen London zu vertauschen – oder stelle ich etwa eine indiskrete Frage?

Mrs. Cheveley: Fragen sind niemals indiskret, nur Antworten sind es zuweilen.

Sir Robert Chiltern: So darf ich immerhin fragen, ob Ihre Reise nur Vergnügungs- oder auch politischen Zwecken dient?

Mrs. Cheveley: Die Politik ist mein einziges Vergnügen. Sie wissen, heutzutage gilt es nicht als fashionabel, zu flirten, ehe man vierzig, oder romantisch zu sein, ehe man fünfundvierzig Jahre alt ist. Deshalb bleibt uns armen Frauen von wirklich oder angeblich noch nicht dreißig Jahren kein anderer Ausweg, als uns mit Politik oder Philanthropie zu befassen. Die Philanthropie ist aber heute allem Anschein nach einfach der letzte Ausweg derjenigen, die ihre Mitmenschen ärgern wollen. Ich ziehe die Politik vor, ich glaube, sie – steht mir besser!

Sir Robert Chiltern: Ein politisches Leben ist eine edle Laufbahn.

Mrs. Cheveley: Zuweilen. Manchmal ist die Politik auch bloß ein schlaues Spiel, Sir Robert, und manchmal nur grober Unfug.

Sir Robert Chiltern: Und was ist sie für Sie?

Mrs. Cheveley: Für mich? Eine Kombination von allen dreien. Läßt ihren Fächer fallen.

Sir Robert Chiltern den Fächer aufhebend: Erlauben Sie!

Mrs. Cheveley: Ich danke.

Sir Robert Chiltern: Nun haben Sie mir aber noch immer nicht den Grund genannt, aus dem Sie London so plötzlich mit Ihrer Anwesenheit beehren. Die Saison geht ihrem Ende entgegen.

Mrs. Cheveley: Oh, ich kümmere mich nicht um die Londoner Saison. Für meinen Geschmack geht es mir dort sozusagen zu »ehelich« zu: handelt es sich doch immer nur um die Jagd nach oder um die Flucht vor dem Ehegatten. Ich wünschte. Sie zu treffen. Ja, Sie! Sie wissen, wie groß weibliche Neugierde ist, fast so groß wie – die der Männer! Ich wollte Sie zu gerne kennen lernen und Sie bitten, mir einen Dienst zu erweisen.

Sir Robert Chiltern: Hoffentlich handelt es sich um keine Bagatelle, Mrs. Cheveley. Bagatellen machen die größte Mühe.

Mrs. Cheveley nach kurzer Überlegung: Nein, ich halte es für keine Bagatelle.

Sir Robert Chiltern: Um so besser! Worum handelt es sich also?

Mrs. Cheveley: Davon später. Steht auf. Darf ich jetzt Ihr schönes Haus besichtigen? Ich höre, daß Sie wundervolle Bilder haben. Der arme Baron Arnheim – erinnern Sie sich noch seiner? – hat mir oft erzählt, daß Sie einige herrliche Corots hätten.

Sir Robert Chiltern fast unmerklich zusammenzuckend: Waren Sie mit Baron Arnheim genau bekannt?

Mrs. Cheveley: Intim. Und Sie?

Sir Robert Chiltern: Ja, ich habe ihn einst gekannt.

Mrs. Cheveley: Er war ein bewundernswerter Mann, nicht wahr?

Sir Robert Chiltern nach einer Pause: Er war in vielen Beziehungen sehr bemerkenswert.

Mrs. Cheveley: Ich habe es oft innerlich bedauert, daß er niemals seine Memoiren geschrieben hat. Sie wären sehr interessant geworden.

Sir Robert Chiltern: Gewiß, er kannte Menschen und Städte so gut wie Odysseus.

Mrs. Cheveley: Dabei ohne den unangenehmen Nachteil, eine Penelope zu Hause zu haben.

Mason: Lord Goring.

Lord Goring tritt ein. Vierunddreißig Jahre alt; behauptet aber, jünger zu sein. Diszipliniertes, ruhig-kühles Gesicht. Klug ohne Aufdringlichkeit. Ihm, dem tadellosen Dandy, wäre es peinlich, für romantisch zu gelten. Jongleur des Lebens, auf dem besten Fuße mit aller Welt. Läßt sich mit Vorliebe mißverstehen und sichert sich dadurch eine gefestigte Position.

Sir Robert Chiltern: Guten Abend, lieber Artur! Gestatten Sie mir, Mrs. Cheveley, Ihnen Lord Goring, Londons gewiegtesten Flaneur, vorzustellen.

Mrs. Cheveley: Ich bin Lord Goring schon einmal begegnet.

Lord Goring sich verbeugend:Ich glaubte nicht. Sie würden sich meiner noch erinnern, Mrs. Cheveley.

Mrs. Cheveley: Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Sie sind noch Junggeselle?

Lord Goring: Ich – denke.

Mrs. Cheveley: Hochromantisch!

Lord Goring: Sie irren, ich bin nicht romantisch, dazu bin ich noch zu jung. Ich überlasse das älteren Leuten.

Sir Robert Chiltern: Lord Goring ist das Produkt von Boodles Club, Mrs. Cheveley.

Mrs. Cheveley: Er macht dieser Institution auch alle Ehre.

Lord Goring: Werden Sie lange in London bleiben, wenn ich fragen darf?

Mrs. Cheveley: Das hängt teils vom Wetter, teils von der Küche und teils von Sir Robert ab.

Sir Robert Chiltern: Hoffentlich wollen Sie uns nicht in einen europäischen Krieg verwickeln?

Mrs. Cheveley: Gegenwärtig besteht keine Gefahr! Sie nickt lächelnd Lord Goring zu und verläßt in Begleitung Sir Robert Chilterns den Salon.

Lord Goring geht lässig auf Mabel Chiltern zu.

Mabel Chiltern: Sie kommen spät!

Lord Goring: Haben Sie mich vermißt?

Mabel Chiltern: Gewaltig.

Lord Goring: Dann bedauere ich sehr, nicht länger ausgeblieben zu sein. Ich lasse mich gerne vermissen.

Mabel Chiltern: Sie sind ein Egoist.

Lord Goring: Das bin ich auch.

Mabel Chiltern: Sie schildern mir mit Vorliebe Ihre schlechten Eigenschaften, Lord Goring.

Lord Goring: Bis jetzt war's erst die Hälfte, Miß Mabel.

Mabel Chiltern: Ist die andre sehr arg?

Lord Goring: Schauderhaft! Wenn ich bei Nacht dran denke, schlafe ich sofort ein.

Mabel Chiltern: Mich begeistern Ihre schlechten Eigenschaften. Ich möchte nicht, daß Sie nur eine davon aufgeben.

Lord Goring: Wie freundlich von Ihnen! Sie sind ja immer ein Engel. Apropos, ich wollte Sie etwas fragen. Miß Mabel. Wer hat Mrs. Cheveley hierher gebracht, die Dame in Heliotrop, die mit Ihrem Bruder gerade das Zimmer verlassen hat?

Mabel Chiltern: Ach, ich glaube, daß Lady Markby sie mitgebracht hat. Warum fragen Sie?

Lord Goring: Bloß deswegen, weil ich sie viele Jahre nicht gesehen habe.

Mabel Chiltern: Eine sinnlose Begründung.

Lord Goring: Alle Gründe sind sinnlos.

Mabel Chiltern: Zu welcher Sorte Frauen gehört sie?

Lord Goring: Bei Tag ist sie ein Genie, bei Nacht eine Beauté.

Mabel Chiltern: Sie mißfällt mir schon jetzt.

Lord Goring: Ein Beweis für Ihren bewunderungswürdigen Geschmack.

Vicomte de Nanjac näher tretend: Das junge Mädchen in England ist der Lindwurm, der den guten Geschmack hütet, nicht wahr? Einfach der Lindwurm des guten Geschmackes.

Lord Goring: So steht's wenigstens immer in den Zeitungen.

Vicomte de Nanjac: Ich lese alle englischen Zeitungen, ich finde sie so amüsant.

Lord Goring: Dann müssen Sie entschieden zwischen den Zeilen lesen, mein lieber Nanjac.

Vicomte de Nanjac: Das würde ich gerne tun, mein Professor ist aber dagegen. Zu Mabel Chiltern. Darf ich Sie ins Musikzimmer begleiten, Mademoiselle?

Mabel Chiltern enttäuscht dreinblickend: Mit Vergnügen, mit größtem Vergnügen! Zu Lord Goring. Kommen Sie nicht auch ins Musikzimmer?

Lord Goring: Nicht, wenn musiziert wird, Miß Mabel.

Mabel Chiltern mit Ernst: Es ist deutsche Musik, davon würden Sie doch nichts verstehen. Verläßt mit dem Vicomte de Nanjac den Salon. Lord Caversham geht auf seinen Sohn zu.

Lord Caversham: Nun also, was treibst du hier? Wohl die Zeit vertrödeln, wie gewöhnlich? Du solltest schon zu Bett sein, du bleibst zu lange auf. Ich habe davon gehört, daß du unlängst bei Lady Rufford bis vier Uhr früh getanzt hast.

Lord Goring: Nur bis dreiviertel vier, Papa.

Lord Caversham: Mir ist unbegreiflich, wie du die Londoner Gesellschaft eigentlich vertragen kannst. Sie ist ja auf den Hund, besteht aus einer Menge verfluchter Nullen, die dummes Zeug schwätzen.

Lord Goring: Ach, ich schwätze gern dummes Zeug, es ist das einzige, wovon ich etwas verstehe.

Lord Caversham: Mir scheint, du lebst ausschließlich dem Vergnügen.

Lord Goring: Wofür sollte man denn sonst leben? Durch nichts erreicht man ein so hohes Alter wie durch Wohlleben.

Lord Caversham: Du bist gefühllos, total gefühllos.

Lord Goring: Hoffentlich nicht, Papa. Guten Abend, Lady Basildon!

Lady Basildon die hübschen Augenbrauen hinaufziehend: Sie hier? Ich wußte nicht, daß Sie je politische Gesellschaften besuchen.

Lord Goring: Ich bin ein Verehrer politischer Gesellschaften. Sie sind die einzigen, bei denen nicht von Politik gesprochen wird.

Lady Basildon: Ich finde aufrichtiges Vergnügen an politischen Debatten, ich selbst führe solche den ganzen Tag, aber ihnen zuzuhören, finde ich unerträglich. Mir ist es unbegreiflich, wie die unglücklichen Herren im Parlament die langen Debatten aushalten können.

Lord Goring: Indem sie nie zuhören.

Lady Basildon: So?

Lord Goring mit seinem ernstesten Ton: Selbstverständlich. Sie müssen wissen, daß das Zuhören eine nicht ungefährliche Sache ist. Wer zuhört, kann sich überzeugen lassen, und ein Mann, der sich durch ein Argument überzeugen läßt, hat jeden Anspruch auf Vernunft verloren.

Lady Basildon: Aha! das erklärt mir so vieles, was ich an den Männern bisher nicht verstehen konnte, und so vieles bei den Frauen, was ihre Ehemänner an ihnen nicht zu würdigen wissen!

Mrs. Marchmont seufzend: Unsere Männer wissen uns nie zu würdigen! Das müssen wir andern überlassen!

Lady Basildon emphatisch: Jawohl, immer nur andern, nicht wahr?

Lord Goring lächelnd: Das sind also die Ansichten der beiden Damen, die anerkanntermaßen die tadellosesten Männer in London haben.

Mrs. Marchmont: Das ist es ja gerade, was uns wider den Strich geht. Mein Reginald ist ein hoffnungsloser Mustergatte. Er ist es zeitweilig in direkt unerträglichem Maße. Es ist nicht das geringste Aufregende daran, mit ihm zu tun zu haben.

Lord Goring: Schrecklich! Die Sache sollte wirklich mehr publik werden.

Lady Basildon: Basildon treibt es genau so. Er ist so häuslich geartet als wäre er ein Junggeselle.

Mrs. Marchmont: Lady Basildon die Hand drückend: Meine arme Olivia! Wir haben tadellose Musterknaben geheiratet und unsre Strafe ist nicht ausgeblieben.

Lord Goring: Meiner Meinung nach sind die Männer die Gestraften!

Mrs. Marchmont sich aufrichtend: O nein! Sie sind so glücklich, wie man es nur sein kann. Und was ihr Vertrauen zu uns betrifft, so liegt schon Tragik darin.

Lady Basildon: Ausgesprochene Tragik!

Lord Goring: Oder Komik, Lady Basildon?

Lady Basildon: Absolut keine Komik, Lord Goring! Wie können Sie so etwas Unliebenswürdiges sagen?

Mrs. Marchmont: Ich fürchte, Lord Goring sieht wie gewöhnlich im feindlichen Lager. Ich sah ihn beim Kommen mit Mrs. Cheveley sprechen.

Lord Goring: Hübsche Frau, Mrs. Cheveley.

Lady Basildon steif: Bewundern Sie doch freundlichst in unserer Gegenwart keine andere Frau. Überlassen Sie das uns!

Lord Goring: Ist ja geschehen.

Mrs. Marchmont: Wir wollen sie aber nicht bewundern. Ich höre, daß sie Montag abend in der Oper war und beim Souper zu Tommy Rufford sagte, die Londoner Gesellschaft bestehe, so viel sie bisher davon gesehen habe, nur aus Gänsen und Gecken.

Lord Goring: Sie hat ganz recht damit. Die Männer sind alle miteinander Gänse und die Frauen Gecken, finden Sie nicht auch?

Mrs. Marchmont nach einer Pause: Ach glauben Sie wirklich, daß Mrs. Cheveley es so gemeint hat?

Lord Goring: Gewiß. Es war wirklich eine recht vernünftige Bemerkung von Mrs. Cheveley.

Mabel Chiltern tritt ein und mischt sich unter die Gruppe: Warum sprechen Sie von Mrs. Cheveley? Alle Welt spricht von Mrs. Cheveley. Lord Goring sagt – was sagten Sie doch über Mrs. Cheveley, Lord Goring? Ich erinnere mich schon, Sie sagten, sie sei bei Tag ein Genie und bei Nacht eine Beauté.

Lady Basildon: Eine abscheuliche Kombination! Geradezu widernatürlich!

Mrs. Marchmont in ihrer verträumtesten Manier: Ich schwärme dafür, Genies zu betrachten und schönen Menschen zuzuhören.

Lord Goring: Aber das ist ja dekadent, Mrs. Marchmont!

Mrs. Marchmont sehr erfreut: Es freut mich, daß Sie das sagen. Marchmont ist jetzt schon sieben Jahre mit mir verheiratet und hat mir noch nicht einmal gesagt, daß ich dekadent wäre. Die Männer sind schrecklich unaufmerksam.

Lady Basildon sich zu ihr wendend: Ich habe doch immer gesagt, liebe Margarete, daß du das dekadenteste Geschöpf von London bist.

Mrs. Marchmont: Ja, du hast immer ein mitfühlendes Herz gehabt, Olivia!

Mabel Chiltern: Ist es dekadent, das Bedürfnis nach Essen zu fühlen? Ich habe ein sehr starkes Verlangen, etwas zu essen. Lord Goring, wollen Sie mir zu einem Souper verhelfen?

Lord Goring: Mit Vergnügen, Miß Mabel. Gehen weiter.

Mabel Chiltern: Sie waren abscheulich! Den ganzen Abend haben Sie sich nicht mit mir unterhalten!

Lord Goring: Wie sollte ich auch? Sie sind doch mit dem Diplomatenbaby entschwunden.

Mabel Chiltern: Es wäre nur höflich gewesen, wenn Sie sich angeschlossen hätten. Sie gefallen mir heute gar nicht.

Lord Goring: Dafür gefallen Sie mir ganz außerordentlich.

Mabel Chiltern: Dann möchte ich, daß Sie mir das deutlicher zeigen! Sie gehen hinunter.

Mrs. Marchmont: Olivia, ich habe ein eigentümliches Gefühl ausgesprochener Schwäche. Ich glaube, ich möchte sehr gerne soupieren. Ich weiß, daß ich es möchte.

Lady Basildon: Ich sterbe vor Hunger, Margarete!

Mrs. Marchmont: Die Männer sind so furchtbar egoistisch, sie denken nie an derartige Dinge.

Lady Basildon: Die Männer sind schreckliche Materialisten!

Der Vicomte de Nanjac kommt mit einigen anderen Gästen aus dem Musikzimmer. Nachdem er alle Anwesenden genau gemustert hat, nähert er sich Lady Basildon.

Vicomte de Nanjac: Wollen Sie mir die Ehre geben, Sie zum Souper führen zu dürfen, Komtesse?

Lady Basildon kühl: Ich danke, Vicomte, ich soupiere nie. Der Vicomte will sich zurückziehen, Lady Basildon merkt seine Absicht, erhebt sich und nimmt seinen Arm. Wer ich will Sie mit Vergnügen hinunterbegleiten.

Vicomte de Nanjac: Ich esse so gern! Ich bin in allen meinen Neigungen durch und durch Engländer.

Lady Basildon: Sie sehen auch ganz wie ein Engländer aus, Vicomte, genau so! Sie gehen hinunter. Mr.Montfort, ein äußerst smarter Dandy, geht auf Mrs. Marchmont zu.

Mr. Montfort: Souper angenehm, Mrs. Marchmont?

Mrs. Marchmont matt: Ich danke, Mr. Montfort, ich pflege das Souper nie anzurühren. Erhebt sich hastig und nimmt seinen Arm. Aber ich will mich zu Ihnen setzen und Ihnen zusehen.

Mr. Montfort: Schätze, daß ich mir beim Essen nicht gerne zusehen lasse.

Mrs. Marchmont: Dann will ich jemand anderm zusehen.

Mr. Montfort: Schätze, daß ich das auch nicht gern habe.

Mrs. Marchmont streng: Ich bitte, Mr. Montfort, machen Sie so peinliche Eifersuchtsszenen doch nicht gerade öffentlich. Sie gehen mit den anderen Gästen hinunter und kommen Sir Robert Chiltern und Mrs. Cheveley vorbei, die jetzt eintreten.

Sir Robert Chiltern: Haben Sie die Absicht, irgendeinen unserer Landsitze zu besuchen, bevor Sie England verlassen, Mrs. Cheveley?

Mrs. Cheveley: O nein, ich kann das englische Landleben nicht leiden. In England wollen die Leute schon sogar beim Frühstück ihr Licht glänzen lassen. Eine schreckliche Eigenschaft. Nur Dummköpfe wollen so etwas. Und dann liest das Familiengespenst immer das Familiengebet vor. Die Dauer meines Aufenthalts in England hängt wirklich nur von Ihnen ab, Sir Robert. Nimmt auf dem Sofa Platz.

Sir Robert Chiltern sich neben sie setzend: Ist das Ihr Ernst?

Mrs. Cheveley: Voller Ernst. Ich möchte mit Ihnen über ein bedeutendes finanzpolitisches Projekt, mit einem Wort über die Argentinische Kanalgesellschaft sprechen.

Sir Robert Chiltern: Ein langweiliges und nüchternes Sujet für Sie, Mrs. Cheveley.

Mrs. Cheveley: O ich schwärme für langweilige, nüchterne Sujets. Dagegen kann ich langweilige, nüchterne Menschen nicht ausstehen. Darin liegt der große Unterschied. Übrigens sind auch Sie, soviel ich weiß, an internationalen Kanalprojekten interessiert. Sie waren Lord Radleys Sekretär zu jener Zeit, als die Regierung die Suezkanalaktien ankaufte, nicht wahr?

Sir Robert Chiltern: Jawohl; der Suezkanal war aber auch ein gewaltiges, grandioses Unternehmen. Durch ihn haben wir die direkte Verbindung mit Indien erreicht. Er hat unbezahlbaren Wert für das Land. Es war für uns nötig, eine Kontrolle zu bekommen. Das argentinische Kanalprojekt dagegen ist ein ganz gewöhnlicher Börsenschwindel.

Mrs. Cheveley: Eine Spekulation, Sir Robert! Eine glänzende, kühne Spekulation!

Sir Robert Chiltern: Glauben Sie mir, Mrs. Cheveley, ein Schwindel! Nennen wir die Dinge nur beim richtigen Namen, das vereinfacht die Sache. Im Auswärtigen Amt haben wir genaue Information darüber. Ich habe sogar eine eigne Kommission ausgesendet, um privatim Erkundigungen über die Angelegenheit einzuholen, und man berichtet mir, daß die Arbeiten kaum begonnen haben, und daß niemand Auskunft geben kann, was mit den bereits gezahlten Geldern geschehen ist. Das Ganze ist ein zweites Panama, aber ohne auch nur ein Viertel der Aussichten auf Erfolg, wie ihn die böse Affäre je gehabt hat. Hoffentlich haben Sie darin nichts angelegt, dafür halte ich Sie für viel zu klug.

Mrs. Cheveley: Ich habe sehr viel darin angelegt.

Sir Robert Chiltern: Wer kann Ihnen zu einer so sinnlosen Sache geraten haben?

Mrs. Cheveley: Ihr alter Freund – der auch der meine war.

Sir Robert Chiltern: Wer wäre das gewesen?

Mrs. Cheveley: Baron Arnheim.

Sir Robert Chiltern die Stirne runzelnd: Ach ja! Ich erinnere mich, zur Zeit seines Ablebens gehört zu haben, daß er in die Sache verwickelt war.

Mrs. Cheveley: Es war sein letzter Roman. Sein vorletzter, um gerecht zu sein.

Sir Robert Chiltern aufstehend: Aber Sie haben meine Corots noch nicht gesehen. Sie hängen im Musikzimmer. Corot und Musik passen zueinander, nicht? Darf ich Ihnen die Bilder zeigen?

Mrs. Cheveley kopfschüttelnd: Ich bin heute nicht in der Laune für silberne Dämmerung und rosige Morgenröte. Ich will über Geschäfte sprechen. Weist ihm mit ihrem Fächer den Platz neben sich an.

Sir Robert Chiltern: Ich fürchte, Mrs. Cheveley, Ihnen keinen anderen Rat geben zu können, als den, sich für weniger gefährliche Dinge zu interessieren. Der Erfolg des Kanals hängt von Englands Stellungnahme ab, und ich werde morgen abend den Bericht der Kommission auf den Tisch des Hauses legen.

Mrs. Cheveley: Das dürfen Sie nicht tun. In Ihrem eigenen Interesse, Sir Robert – von meinem nicht zu sprechen – dürfen Sie das nicht tun.

Sir Robert Chiltern sie erstaunt ansehend: In meinem eigenen Interesse? Wie meinen Sie das, meine liebe Mrs. Cheveley? Setzt sich neben sie.

Mrs. Cheveley: Sir Robert, ich will ganz aufrichtig zu Ihnen sein. Sie müssen den Bericht, den sie dem Parlament vorlegen wollten, mit der Begründung zurückziehen, die Kommission sei voreingenommen oder schlecht informiert gewesen, oder sonst dergleichen. Ferner müssen Sie ein paar Worte darüber verlieren, die Regierung werde die Frage überprüfen lassen, und Sie hätten Gründe für die Annahme, daß der Kanal nach seiner Vollendung große internationale Bedeutung erlangen werde. Sie wissen ja, was Minister in solchen Fällen zu sagen pflegen. Ein paar Gemeinplätze genügen. Im modernen Leben macht nichts soviel Effekt, wie gutangebrachte Platitüden. Es sind die gleichen auf der ganzen Welt. Wollen Sie das für mich tun?

Sir Robert Chiltern: Mrs. Cheveley, Sie können einen derartigen Vorschlag nicht ernst meinen!

Mrs. Cheveley: Ich meine ihn ganz ernst.

Sir Robert Chiltern kühl: Gestatten Sie mir gütigst, zu glauben, daß Sie nicht ernst sprechen!

Mrs. Cheveley sehr überlegen und emphatisch: Es ist aber so! Und wenn Sie tun, worum ich Sie bitte, so will ich – Sie nobel bezahlen.

Sir Robert Chiltern: Mich bezahlen?

Mrs. Cheveley: Jawohl.

Sir Robert Chiltern: Ich glaube, Sie nicht zu verstehen.

Mrs. Cheveley sich zurücklehnend und ihn anschauend: Wie schade! Die lange Reise von Wien hierher habe ich doch nur gemacht, damit Sie mich recht verstehen.

Sir Robert Chiltern: Leider gelingt es mir nicht.

Mrs. Cheveley möglichst nonchalant: Mein lieber Sir Robert, Sie sind ein Weltmann und haben vermutlich Ihre Taxe. Seine Taxe hat heutzutage jedermann. Der Nachteil ist nur, daß die meisten Leute so schrecklich hohe Ansprüche stellen. Ich, zum Beispiel, gehöre zu diesen. Ich hoffe. Sie werden in Ihren Ansprüchen vernünftiger sein.

Sir Robert Chiltern indigniert aufstehend: Wenn Sie gestatten, will ich Ihren Wagen rufen lassen. Sie haben solange im Auslande gelebt, Mrs. Cheveley, daß Sie nicht begreifen können, daß Sie mit einem englischen Gentleman sprechen.

Mrs. Cheveley hält ihn zurück, indem sie seinen Arm mit ihrem Fächer berührt, den sie nicht wegnimmt, solange sie spricht: Ich bin mir darüber klar, mit einem Manne zu sprechen, der den Grundstock zu seinem Vermögen dadurch gelegt hat, daß er ein Staatsgeheimnis an einen Börsenspekulanten verkauft hat.

Sir Robert Chiltern sich auf die Lippen beißend: Was wollen Sie damit sagen?

Mrs. Cheveley erhebt sich und blickt ihn an: Ich will damit sagen, daß ich die wahre Herkunft Ihres Vermögens und Ihrer Karriere kenne, und daß ich auch Ihren Brief habe.

Sir Robert Chiltern: Welchen Brief?

Mrs. Cheveley verächtlich: Den Brief, den Sie noch als Lord Radleys Sekretär an Baron Arnheim geschrieben und worin Sie ihm geraten haben, Suezkanalaktien zu kaufen – der Brief wurde drei Tage geschrieben, bevor die Regierung den Ankauf veröffentlicht hatte.

Sir Robert Chiltern mit heiserer Stimme: Das ist nicht wahr.

Mrs. Cheveley: Sie glaubten, der Brief sei vernichtet worden. Wie unvernünftig! Er ist in meinem Besitz.

Sir Robert Chiltern: Die Sache, auf die Sie anspielen, war nichts anderes, als eine Spekulation. Die Vorlage hatte das Unterhaus noch nicht passiert, sie hätte abgelehnt werden können.

Mrs. Cheveley: Es war ein Schwindel, Sir Robert. Nennen wir die Dinge nur beim richtigen Namen, das vereinfacht die Sache. Und nun möchte ich Ihnen jenen Brief verkaufen; der Preis, den ich dafür verlange, ist die offizielle Unterstützung des Argentinischen Projekts durch Ihre Person. Durch einen Kanal haben Sie Ihr Vermögen gemacht, Sie müssen mir und meinen Freunden helfen, unser Vermögen durch einen anderen zu machen.

Sir Robert Chiltern: Was Sie mir vorschlagen, ist infam – einfach infam!

Mrs. Cheveley: O nein! Es ist die Lotterie des Lebens, die wir alle spielen müssen, früher oder später, Sir Robert!

Sir Robert Chiltern: Ich kann nicht tun, was Sie von mir verlangen.

Mrs. Cheveley: Sie wollen sagen, daß Sie es unbedingt tun müssen! Sie wissen, daß Sie am Rande eines Abgrundes stehen. Es ist nicht Ihre Sache, Bedingungen zu stellen, es ist Ihre Sache, sie anzunehmen. Falls Sie ablehnen –

Sir Robert Chiltern: Dann?

Mrs. Cheveley: Dann, mein lieber Sir Robert? Dann sind Sie ruiniert, das ist alles! Bedenken Sie, wohin Sie Ihr Puritanertum in England gebracht hat. In früheren Zeiten hat niemand besser scheinen wollen, als seine Mitmenschen. Man hat es vielmehr für sehr ordinär und philisterhaft gehalten, auch nur um ein bißchen besser zu sein, als die Mitmenschen. Heutzutage, mit unserer modernen Manie für Moral, muß jedermann als ein Muster von Reinheit, Unbestechlichkeit und der anderen sieben Tod-Tugenden posieren – und was ist das Resultat? Sie fallen alle um wie die Kegel – einer nach dem anderen. Kein Jahr vergeht in England, ohne daß einer verschwände. Skandale verliehen früher einem Manne Reiz, oder machten ihn wenigstens interessant, heute vernichten sie seine Existenz. Und Ihr Skandal ist sehr häßlich. Sie könnten ihn nicht überleben. Wenn es publik würde, daß Sie als junger Mann, als Sekretär eines maßgebenden, einflußreichen Ministers, ein Staatsgeheimnis für eine große Summe Geldes verkauft haben, und daß dies der Grundstein Ihres Vermögens und Ihrer Karriere ist, so würden Sie mit Schimpf und Schande aus dem öffentlichen Leben gejagt werden, müßten spurlos verschwinden. Und schließlich, warum sollten Sie Ihre ganze Zukunft opfern, statt diplomatisch mit Ihrem Feind zu verhandeln, Sir Robert? Für den Augenblick bin ich Ihr Feind, zugegeben. Momentan bin ich viel stärker als Sie. Die großen Bataillone sind auf meiner Seite. Sie nehmen eine glänzende Position ein, aber gerade sie ist es, die Sie so verwundbar macht. Sie können sie nicht halten. Und ich bin in der Offensive. Selbstverständlich habe ich Ihnen nicht Moral gepredigt. Sie müssen gerechterweise zugeben, daß ich Ihnen das erspart habe. Vor Jahren haben Sie eine schlaue, gewissenlose Handlung begangen; sie ist Ihnen durchaus gelungen, ihr verdanken Sie Vermögen und Stellung. Jetzt sollen Sie dafür bezahlen. Früher oder später müssen wir alle für das bezahlen, was wir getan haben. Jetzt sind Sie an der Reihe. Ehe ich heute nacht von hier weggehe, müssen Sie mir das Versprechen gegeben haben, Ihren Bericht zu kassieren, und im Parlament zugunsten des Unternehmens zu sprechen.

Sir Robert Chiltern: Was Sie verlangen, ist unmöglich.

Mrs. Cheveley: So müssen Sie es möglich machen, und Sie werden es möglich machen. Sie kennen Ihre englischen Zeitungen, Sir Robert. Stellen Sie sich nur vor, daß ich von hier aus in irgendeine Redaktion führe und Ihren Skandal mit allen Belegen lieferte! Denken Sie an das ekle Vergnügen, an das Entzücken, mit dem Ihr Sturz dort vorbereitet würde, denken Sie an den Kot und Schlamm, in den man Sie zöge. Stellen Sie sich vor, wie der Filou dort mit schmierigem Lächeln den Leitartikel schreibt und Ihre Schande der Öffentlichkeit preisgibt?

Sir Robert Chiltern: Halten Sie ein! Sie verlangen, daß ich den Bericht kassiere und eine kurze Rede halte, in der ich sage, daß das Unternehmen Chancen hat?

Mrs. Cheveley sich auf das Sofa setzend: Das ist meine Bedingung.

Sir Robert Chiltern leise: Ich biete Ihnen jede Summe Geldes an, die Sie verlangen.

Mrs. Cheveley: Nicht einmal Sie, Sir Robert, sind reich genug, um Ihre Vergangenheit zurückzukaufen. Kein Mensch ist dazu reich genug.

Sir Robert Chiltern: Ich werde nicht tun, was Sie von mir verlangen. Ich will es nicht.

Mrs. Cheveley: Sie müssen. Wenn nicht – – Steht vom Sofa auf.

Sir Robert Chiltern bestürzt, entmutigt: Bleiben Sie noch einen Augenblick. Wie lautet Ihr Vorschlag? Sie sagten, daß Sie mir dann den Brief zurückgeben, nicht?

Mrs. Cheveley: Ja, das ist abgemacht. Ich werde morgen um halb zwölf Uhr nacht auf der Damengalerie sein; wenn Sie bis zu dieser Zeit – es bieten sich eine Menge Gelegenheiten dazu – dem Parlament eine Mitteilung in dem von mir gewünschten Sinne gemacht haben, so werde ich Ihnen den Brief mit dem schönsten Dank und dem besten, jedenfalls dem passendsten Kompliment, das mir einfällt, zurückgeben. Ich will mit Ihnen ganz ehrlich spielen. Man sollte immer ehrlich spielen, wenn man die Trümpfe in der Hand hat, das – unter anderm – hat mich der Baron gelehrt.

Sir Robert Chiltern: Sie müssen mir Zeit lassen, Ihren Vorschlag zu überdenken.

Mrs. Cheveley: Nein, Sie müssen sich jetzt entschließen!

Sir Robert Chiltern: Geben Sie mir eine Woche – drei Tage!

Mrs. Cheveley: Unmöglich! Ich muß noch heute nacht nach Wien telegraphieren.

Sir Robert Chiltern: Gott, was hat Sie in mein Leben gebracht!

Mrs. Cheveley: Der böse Zufall! Geht zur Türe.

Sir Robert Chiltern: Bleiben Sie! Ich gebe also meine Einwilligung. Der Bericht soll kassiert werden. Ich will es so einrichten, daß an mich eine Interpellation über den Gegenstand gerichtet wird.

Mrs. Cheveley: Ich danke. Ich wußte ja, daß wir in Freundschaft zusammenkommen würden. Ihre Natur habe ich von Anfang an durchschaut, habe Sie analysiert, obwohl Sie mich nicht verehrt haben. Und jetzt können Sie mich zu meinem Wagen begleiten, Sir Robert. Ihre Gäste kommen vom Souper. Die Engländer fallen nach der Mahlzeit immer ins Romantische, und das langweilt mich schauderhaft. Sir Robert geht ab.

Gäste treten ein, Lady Chiltern, Lady Markby, Lord Caversham, Lady Basildon, Mrs. Marchmont, Vicomte de Nanjac, Mr. Montfort.

Lady Markby: Nun, liebe Mrs. Cheveley, ich hoffe, daß Sie sich amüsiert haben. Sir Robert ist sehr amüsant, nicht?

Mrs. Cheveley: Außerordentlich! Ich habe mich mit Sir Robert trefflich unterhalten.

Lady Markby: Er hat eine sehr interessante und glänzende Karriere gemacht und eine reizende Frau geheiratet. Es freut mich, Ihnen sagen zu können, daß Lady Chiltern eine Frau von vornehmster Gesinnung ist. Ich bin schon ein bißchen zu alt dazu, selbst ein gutes Beispiel geben zu können, aber ich bewundere noch immer die Leute, die dergleichen tun. Und Lady Chiltern übt einen sehr veredelnden Einfluß auf das Leben ihrer Mitmenschen aus, wenn auch ihre Diners manchmal recht langweilig sind. Aber man kann eben nicht alles zugleich haben, nicht wahr? Ich muß jetzt gehen, soll ich Sie morgen abholen?

Mrs. Cheveley: Ich bitte.

Lady Markby: Wir könnten um fünf Uhr in den Park fahren, es ist jetzt so frisch im Park!

Mrs. Cheveley: Nur die Menschen nicht!

Lady Markby: Vielleicht sind die Menschen jetzt wirklich ein bißchen matt. Ich habe oft die Bemerkung gemacht, daß die Saison in ihrem Fortschreiten sozusagen gehirnerweichend wirkt. Aber immerhin halte ich das alles noch für besser, als starke geistige Anstrengung. Nichts kleidet so schlecht. Die Nasen der jungen Mädchen werden dabei lang, und nichts bringt man so schwer unter die Haube wie eine lange Nase. Die Männer wollen das einmal nicht. Gute Nacht, liebe Mrs. Cheveley! Zu Lady Chiltern. Gute Nacht, Gertrud! Geht am Arme Lord Cavershams ab.

Mrs. Cheveley: Was für ein entzückendes Haus Sie haben, Lady Chiltern! Ich habe einen reizenden Abend verlebt. Es war so interessant, Ihren Gemahl kennen zu lernen.

Lady Chiltern: Warum haben Sie gewünscht, meinen Mann kennen zu lernen, Mrs. Cheveley?

Mrs. Cheveley: Oh, das will ich Ihnen gerne sagen. Ich wünschte, ihn für das Argentinische Kanalprojekt zu interessieren, von dem Sie, wie ich annehme, gehört haben. Und ich habe ihn sehr empfänglich gefunden – empfänglich für Vernunft, will ich sagen. Das ist beim Manne selten. In zehn Minuten habe ich ihn bekehrt. Er wird morgen abend im Parlament zugunsten dieses Projekts sprechen. Wir müssen auf die Damengalerie gehen und ihn hören. Es wird ein großes Ereignis werden.

Lady Chiltern: Das muß ein Irrtum sein. Dieses Unternehmen wird nie durch meinen Mann unterstützt werden.

Mrs. Cheveley: Ich versichere Ihnen, daß alles abgemacht ist. Jetzt bedauere ich auch nicht mehr meine langweilige Reise von Wien hierher. Es war ein großer Erfolg. Selbstverständlich ist die ganze Sache für die nächsten vierundzwanzig Stunden tiefstes Geheimnis.

Lady Chiltern leise: Ein Geheimnis, zwischen wem?

Mrs. Cheveley deren Augen vor Vergnügen leuchten: Zwischen Ihrem Mann und mir.

Sir Robert Chiltern eintretend: Ihr Wagen ist hier, Mrs. Cheveley.

Mrs. Cheveley: Ich danke! Guten Abend, Lady Chiltern, Gute Nacht, Lord Goring! Ich wohne im Claridge-Hotel. Glauben Sie nicht, daß Sie Ihre Karte abgeben könnten?

Lord Goring: Wenn Sie es wünschen, Mrs. Cheveley.

Mrs. Cheveley: Seien Sie nicht gar so feierlich, sonst bin ich genötigt, meine Karte bei Ihnen abzugeben. Ich glaube kaum, daß das in England en règle wäre. Im Ausland sind wir zivilisierter. Wollen Sie mich hinunter begleiten, Sir Robert? Jetzt, da wir dieselben Interessen haben, werden wir hoffentlich gute Freunde sein! Rauscht an Sir Roberts Arm hinaus. Lady Chiltern geht auf den Treppenabsatz und schaut ihnen nach. Ihr Ausdruck ist verstimmt. Nach kurzer Zeit gesellen sich einige Gäste zu ihr, mit denen sie in einen anderen Empfangsraum geht.

Mabel Chiltern: Eine schauderhafte Person!

Lord Goring: Sie sollten zu Bett gehen, Miß Mabel.

Mabel Chiltern: Lord Goring!

Lord Goring: Mein Papa hat mir vor einer Stunde gesagt, ich solle zu Bett gehen. Ich sehe nicht ein, warum ich Ihnen nicht denselben Rat geben solle. Ich gebe gute Ratschläge immer weiter, es ist das einzige, was man mit ihnen machen kann; selber nützen sie einem nie.

Mabel Chiltern: Lord Goring, Sie schicken mich immer aus dem Zimmer; ich finde das sehr kühn von Ihnen, um so mehr, da ich erst in einigen Stunden zu Bett zu gehen gedenke. Geht zum Sofa. Sie dürfen näher kommen und sich zu mir setzen, wenn Sie wollen, und über alles auf der Welt sprechen, außer über die Royal-Academy, Mrs. Cheveley und schottische Dialektromane. Das sind keine veredelnden Sujets. Bemerkt etwas, das, von Polstern halb versteckt, auf dem Sofa liegt. Was ist das? Jemand hat eine Brillantbrosche verloren. Wunderschön, nicht? Zeigt ihm den Schmuck. Ich möchte, sie gehörte mir, aber Gertrud besteht darauf, daß ich nur Perlen trage, und ich habe Perlen gründlich satt. Man sieht mit Perlen so einfach, brav und verständig aus. Ich möchte wissen, wem die Brosche gehört.

Lord Goring: Und ich, wer sie verloren hat.

Mabel Chiltern: Eine herrliche Brosche!

Lord Goring: Nein, ein schönes Armband.

Mabel Chiltern: Kein Armband, eine Brosche.

Lord Goring: Sie kann auch als Armband benützt werden. Er nimmt ihr den Schmuck aus der Hand, zieht eine grüne Brieftasche hervor, verwahrt darin sorgfältig die Brosche und steckt das ganze mit der vollendetsten Kaltblütigkeit wieder in seine Brusttasche.

Mabel Chiltern: Was tun Sie da?

Lord Goring: Miß Mabel, ich bin eben im Begriffe, eine sehr seltsame Bitte an Sie zu richten.

Mabel Chiltern eilfertig: Ich bitte, tun Sie das. Ich habe den ganzen Abend darauf gewartet.

Lord Goring zuerst ein wenig aus der Contenance gebracht, dann aber wieder vollkommen kaltblütig: Erwähnen Sie niemand gegenüber, daß ich diese Brosche an mich genommen habe. Sollte jemand schreiben und sie reklamieren, so lassen Sie mich es sofort wissen.

Mabel Chiltern: Eine seltsame Bitte.

Lord Goring: Sie müssen wissen, daß ich diese Brosche schon vor Jahren jemand zum Geschenk gemacht habe.

Mabel Chiltern: Sie?

Lord Goring: Ja.

Lady Chiltern tritt allein ins Zimmer. Die andern Gäste haben sich indessen verabschiedet.

Mabel Chiltern: Dann muß ich Ihnen allerdings gute Nacht sagen. Gute Nacht, Gertrud! Ab.

Lady Chiltern: Gute Nacht, mein Kind. Zu Lord Goring. Haben Sie bemerkt, wen Lady Markby heute abend hier eingeführt hat?

Lord Goring: Jawohl, es war eine unangenehme Überraschung. Warum ist sie gekommen?

Lady Chiltern: Wohl um Robert mit allen Mitteln dazu zu bringen, ein Schwindelprojekt zu unterstützen, bei dem sie interessiert ist. Es handelt sich um den Argentinischen Kanal.

Lord Goring: Da ist sie wohl bei Ihrem Mann an den Unrechten gekommen?

Lady Chiltern: Sie kann eine aufrechte Natur, wie die meines Mannes, nicht begreifen.

Lord Goring: So ist's. Ich glaube, sie würde bei einem Versuche, Robert in ihr Netz zu locken, nur Fiasko machen. Es ist wirklich erstaunlich, wie gerade kluge Frauen so unbegreifliche Fehler begehen.

Lady Chiltern: Frauen dieser Sorte nenne ich nicht klug, sondern dumm.

Lord Goring: Kommt oft auf dasselbe heraus. Gute Nacht, Lady Chiltern.

Lady Chiltern: Gute Nacht! Sir Robert Chiltern tritt ein.

Sir Robert Chiltern: Du willst doch nicht schon gehen, lieber Artur? Bleib noch ein bißchen!

Lord Goring: Tut mir leid, kann nicht. Habe zugesagt, noch zu Hartlocks zu kommen. Glaube, daß dort eine dunkle Zigeunerbande dunkle Zigeunerweisen spielt. Seh' euch bald wieder. Adieu! Ab.

Sir Robert Chiltern: Wie schön du heute aussiehst, Gertrud.

Lady Chiltern: Robert, nicht wahr, du wirst für diesen Argentinischen Schwindel nicht mit deiner Person eintreten? Das kannst du nicht tun.

Sir Robert Chiltern stutzig: Wer sagte dir, daß ich das tun möchte?

Lady Chiltern: Die Frau, die eben fortgegangen ist. Mrs. Cheveley, wie sie sich jetzt nennt. Sie schien mich damit höhnen zu wollen. Robert, ich kenne diese Frau, du kennst sie nicht. Wir waren zusammen in der Schule. Schon damals war sie verlogen und diebisch, hatte einen schlechten Einfluß auf jedermann, in dessen Vertrauen, in dessen Freundschaft sie sich einschleichen konnte. Ich haßte, verabscheute sie. Sie hat gestohlen, war eine Diebin. Als Diebin wurde sie aus der Schule gestoßen. Warum läßt du dich von ihr beeinflussen?

Sir Robert Chiltern: Gertrud, was du da sagst, mag wahr sein, aber es ist vor vielen Jahren geschehen, und am besten ist, man vergißt es. Mrs. Cheveley kann sich seither vollkommen geändert haben. Man soll niemand nach seiner Vergangenheit beurteilen.

Lady Chiltern traurig: Der Mensch ist eins mit seiner Vergangenheit. Sie ist das einzige Maß, mit dem man die Menschen messen soll.

Sir Robert Chiltern: Ein hartes Wort, Gertrud!

Lady Chiltern: Aber auch ein wahres Wort, Robert. Wie durfte sie sich rühmen, dich bewogen zu haben, deine Unterstützung, deinen Namen einer Sache zu leihen, die du in meiner Gegenwart stets als den größten Betrug bezeichnet hattest, der je im politischen Leben vorgekommen sei?

Sir Robert Chiltern sich auf die Lippen beißend: Ich habe mich in der Art und Weise, in der ich die Sache ansah, getäuscht. Wir alle können Irrtümer begehen.

Lady Chiltern: Aber noch gestern hast du mir gesagt, du hättest den Kommissionsbericht erhalten, der die Sache auf das entschiedenste verwirft.

Sir Robert Chiltern auf und ab gehend: Jetzt habe ich eben Gründe dafür, anzunehmen, die Kommission sei von falschen Voraussetzungen ausgegangen und zweifellos falsch informiert gewesen. Im übrigen ist ein Unterschied zwischen dem öffentlichen und dem Privatleben. Beide unterliegen verschiedenen Gesetzen und gehen getrennte Wege.

Lady Chiltern: In beiden soll sich der Mensch von seiner besten Seite zeigen. Ich kenne da keinen Unterschied.

Sir Robert Chiltern stehen bleibend: Im konkreten Falle, einer Angelegenheit des praktischen, politischen Lebens, habe ich meine Ansicht geändert – das ist alles.

Lady Chiltern: Alles!

Sir Robert Chiltern finster: Jawohl!

Lady Chiltern: Robert – es ist schrecklich, wenn ich an dich eine solche Frage richten muß – Robert, hast du mir die volle Wahrheit gesagt?

Sir Robert Chiltern: Wie kommst du dazu, eine solche Frage an mich zu richten?

Lady Chiltern nach einer Pause: Warum gibst du mir keine Antwort?

Sir Robert Chiltern sich niedersetzend: Gertrud, der Begriff Wahrheit ist ein sehr komplizierter Begriff, und die Politik ein sehr kompliziertes Geschäft. Da gibt es Räder, die in Räder greifen. Man kann gewissen Menschen gegenüber Verpflichtungen eingehen und muß dann dafür bezahlen. Früher oder später muß man im politischen Leben Kompromisse schließen – jeder, ohne Ausnahme.

Lady Chiltern: Kompromisse? Robert, warum sprichst du heute plötzlich so ganz anders, als ich dich sonst sprechen hörte? Wieso hast du dich so geändert?

Sir Robert Chiltern: Ich habe mich nicht geändert, aber die Verhältnisse verändern die Sachlage.

Lady Chiltern: Die Verhältnisse dürfen auf unsere Prinzipien keinen Einfluß haben!

Sir Robert Chiltern: Wenn ich dir aber schon gesagt habe, daß –

Lady Chiltern: Was?

Sir Robert Chiltern: Daß es notwendig, absolut notwendig war.

Lady Chiltern: Es kann keine Notwendigkeit geben, etwas Unehrenhaftes zu tun! Wenn es aber eine solche gibt, was ist es dann, was ich geliebt habe! Nein, es gibt keine, Robert, sag' mir, daß es keine gibt. Warum auch? Was könntest du dabei gewinnen? Geld? Wir haben Geld genug! Und Geld, das aus einer unlautern Quelle stammt, erniedrigt. Macht? Macht ist an sich nichts, Macht heißt nur, das Gute und Schöne tun zu können – das und nur das. Was also sonst? Robert, sag' mir, warum willst du dich in diese schmutzige Affäre einlassen?

Sir Robert Chiltern: Gertrud, dir steht kein Recht zu, derartige Worte zu gebrauchen. Ich habe dir schon gesagt, es ist eine Frage vernünftigen Kompromisses, nicht mehr als das.

Lady Chiltern: Robert, das mag bei anderen Menschen genügen, Menschen, die das Leben nur als eine schmutzige Spekulation betrachten, nicht aber für dich, Robert, nicht für dich. Du bist anders: Dein Leben lang hast du abseits von den anderen gestanden, hast deine Seele nie vom Schmutz der Welt beflecken lassen. Für die Welt, für mich bist du stets das Ideal gewesen. O bleibe weiter dies Ideal. Verschleudre nicht diesen großen Reichtum – zerstöre nicht den Turm aus Elfenbein. Robert, Männer können lieben, was unter ihnen ist – wertlose, beschmutzte, entehrte Dinge. Wir Frauen aber vergöttern, wenn wir lieben; und wenn wir nicht mehr vergöttern können, dann verlieren wir alles. O töte nicht die Liebe, die ich für dich hege, töte sie nicht!

Sir Robert Chiltern: Gertrud!

Lady Chiltern: Ich weiß wohl, daß es Menschen gibt, deren Leben furchtbare Geheimnisse enthält – Menschen, die Verächtliches getan haben und die in einem kritischen Moment durch neue Niedrigkeiten büßen müssen – o sage nicht, daß auch du zu ihnen gehörst. Robert, gibt es in deinem Leben irgendeinen geheimen Makel oder einen Schandfleck? Sag' mir's, sag' mir's auf einmal, daß –

Sir Robert Chiltern: Daß?

Lady Chiltern sehr leise: Daß unsere Wege sich von nun an trennen müssen.

Sir Robert Chiltern: Daß unsere Wege sich trennen müssen?!

Lady Chiltern: Ja. Daß wir ganz getrennte Wege gehen müssen. Es wäre besser für uns beide.

Sir Robert Chiltern: Gertrud, es gibt nichts in meiner Vergangenheit, das du nicht wissen dürftest.

Lady Chiltern: Ich wußte es sicher, Robert, wußte es ganz sicher. Warum hast du dann aber so entsetzliche Dinge gesagt, die deinem Charakter so widersprechen? Sprechen wir nie wieder über diese Angelegenheit. Schreibe Mrs. Cheveley, teile ihr mit, daß du ihr anrüchiges Projekt nicht unterstützen willst. Und wenn du ihr irgend etwas versprochen hast, so nimm dein Versprechen einfach zurück.

Sir Robert Chiltern: Muß ich ihr das wirklich schreiben?

Lady Chiltern: Gewiß, Robert, wie könntest du anders?

Sir Robert Chiltern: Es wäre besser, wenn ich mit ihr persönlich spräche.

Lady Chiltern: Du darfst sie nie wieder sehen, Robert, sie ist nicht die Frau, mit der du je wieder sprechen darfst. Sie ist nicht wert, daß du mit ihr sprichst. Du mußt ihr jetzt sofort, in diesem Augenblicke noch schreiben, und ihr mit deinem Briefe beweisen, daß dein Entschluß unabänderlich ist.

Sir Robert Chiltern: Ich soll ihr jetzt schreiben?

Lady Chiltern: Ja!

Sir Robert Chiltern: Aber es ist so spät, schon beinahe Mitternacht.

Lady Chiltern: Das macht nichts. Sie muß sofort wissen, daß sie sich in dir getäuscht hat – und daß du nicht der Mann bist, der etwas Niedriges, Verstecktes oder Unehrenhaftes tut. Schreib hier, Robert. Schreib', daß du es ablehnst, ihr Projekt zu unterstützen, das du für unehrlich halten mußt. Jawohl, gebrauche das Wort »unehrlich«. Sie weiß, was dieses Wort bedeutet. Sir Robert Chiltern setzt sich nieder und schreibt einen Brief. Seine Frau nimmt den Brief und liest ihn. Ja, das wird genügen. Sie klingelt. Und jetzt das Kuvert. Sir Robert Chiltern schreibt langsam die Adresse. Mason tritt ein. Lassen Sie diesen Brief sofort ins Claridge-Hotel tragen, auf Antwort ist nicht zu warten. Mason ab. Lady Chiltern kniet an der Seite ihres Gatten nieder und umschlingt ihn mit ihren Armen. Robert, die Liebe verleiht uns einen gewissen Instinkt. Ich fühle jetzt, daß ich dich vor irgend etwas bewahrt habe, das eine Gefahr für dich bedeutet hätte, vor etwas, das dich in den Augen der Menschen weniger wert hätte erscheinen lassen. Vielleicht bist du dir dessen selbst nicht bewußt, Robert, daß du das politische Leben unserer Zeit in eine noblere Atmosphäre versetzt, daß du dem Leben gegenüber eine schönere Haltung gefunden, daß du uns reinere Lüfte edlern Wollens und höherer Ideale gebracht hast – ich aber weiß es, und deswegen liebe ich dich, Robert.

Sir Robert Chiltern: Oh, laß deine Liebe nie erkalten, Gertrud, laß sie nie erkalten!

Lady Chiltern: Ich werde dich immer lieben, weil du meiner Liebe immer wert sein wirst. Das Hohe, das in unser Leben tritt – wir müssen es lieben! Sie küßt ihn, erhebt sich vom Boden und verläßt das Zimmer.

Sir Robert Chiltern geht einen Augenblick auf und ab; dann setzt er sich nieder und verbirgt das Antlitz in den Händen; der Diener erscheint und beginnt die Lichter auszulöschen. Sir Robert Chiltern blickt auf.

Sir Robert Chiltern: Löschen Sie die Lichter aus, Mason, löschen Sie die Lichter aus!

Der Diener löscht die Lichter aus, der Raum wird ganz dunkel. Das einzige Licht, das noch leuchtet, geht vom großen Kronleuchter im Treppenhause aus und läßt den Gobelin mit dem »Triumph der Liebe« deutlich hervortreten.

Zweiter Akt

Schreibzimmer im Hause Sir Robert Chilterns.

Lord Goring in tadelloser Toilette, nachlässig in einem Fauteuil ausgestreckt. Sir Robert Chiltern steht vor dem Kamin. Er befindet sich sichtlich in einem qualvollen Zustande tiefer seelischer Erregung. Während der Szene durchmißt er mit nervösen Schritten das Zimmer.

Lord Goring: Mißliche Sache das, lieber Robert, sehr mißliche Sache. Du hättest deiner Frau den ganzen Zusammenhang erzählen sollen. Nur vor anderer Leute Frauen sind Geheimnisse im modernen Leben unumgänglicher Luxus. Das wird mir wenigstens immer im Klub erzählt, und zwar von Leuten, die schon genügend glatzköpfig sind, es zu wissen. Aber vor seiner eigenen Frau sollte niemand Geheimnisse haben. Sie findet es doch immer heraus. Die Frauen haben einen wunderbaren Instinkt für die Dinge, sie bemerken alles, mit Ausnahme des Selbstverständlichen.

Sir Robert Chiltern: Artur, ich konnte es meiner Frau nicht sagen. Wann hätte ich auch mit ihr darüber sprechen sollen? Gewiß nicht gestern nacht. Es hätte uns fürs Leben auseinandergebracht, und ich hätte mir die Liebe der einzigen Frau verscherzt, die ich anbete, die Liebe der einzigen Frau, die ich je geliebt habe. Gestern nacht wäre es ganz unmöglich gewesen; sie hätte sich mit Entsetzen von mir gewandt … mit Entsetzen und mit Verachtung.

Lord Goring: Ist Lady Chiltern wirklich so vollkommen?

Sir Robert Chiltern: Ja, meine Frau ist so vollkommen.

Lord Goring seinen linken Handschuh ausziehend: Zu schade! Bitte um Entschuldigung, lieber Freund, ich habe das nicht ernst gemeint. Wenn aber das, was du mir erzählt hast, richtig ist, so hätte ich den lebhaften Wunsch, mich mit Lady Chiltern in ein seriöses Gespräch über das Leben einzulassen.

Sir Robert Chiltern: Das wäre ganz nutzlos.

Lord Goring: Darf ich es versuchen?

Sir Robert Chiltern: Gewiß, aber nichts kann sie von ihren Ansichten abbringen.

Lord Goring: Gut, im schlimmsten Fall ist es einfach ein psychologisches Experiment gewesen.

Sir Robert Chiltern: Alle derartigen Experimente sind ungemein gefährlich.

Lord Goring: Mein lieber Freund, alles ist gefährlich, sonst wäre das Leben nicht wert, gelebt zu werden … Im übrigen hättest du meiner Meinung nach deiner Frau schon vor Jahren Mitteilung davon machen sollen.

Sir Robert Chiltern: Wann? Vielleicht, als wir verlobt waren? Glaubst du, sie hätte mich geheiratet, wenn sie den wahren Ursprung meines Reichtums, den wahren Ursprung meiner Karriere gekannt hätte? Wenn sie gewußt hätte, daß ich etwas begangen habe, was die Mehrzahl der Menschen vermutlich scham- und ehrlos nennen würde?

Lord Goring langsam: Jawohl, die Mehrzahl der Menschen würde dem Ding einen häßlichen Namen geben, da kann kein Zweifel herrschen.

Sir Robert Chiltern bitter: Menschen, die jeden Tag genau dasselbe tun, Menschen, von denen jeder einzelne dunklere Punkte in seinem Leben hat.

Lord Goring: Darin liegt ja auch der geheime Grund, warum sie sich so freuen, bei ihren Nebenmenschen auf dunkle Punkte zu stoßen: Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wird dadurch von ihnen selbst abgelenkt.

Sir Robert Chiltern: Und schließlich, wem habe ich durch mein Vorgehen geschadet? Niemand.

Lord Goring ihn fest ansehend: Außer dir, Robert.

Sir Robert Chiltern nach einer Pause: Ich besaß Privatinformationen wegen einer Transaktion, die die damalige Regierung plante, und daraus zog ich Nutzen. Heutzutage sind Privatinformationen überhaupt die Quelle jedes großen Vermögens.

Lord Goring mit seinem Stock auf seinen Schuh tippend: Und ein öffentlicher Skandal immer wieder der Effekt.

Sir Robert Chiltern den Raum durchmessend: Artur, glaubst du, daß man das, was ich vor beinahe achtzehn Jahren getan habe, heute noch gegen mich ausbeuten sollte? Hältst du es für gerecht, wenn etwas die ganze Karriere eines Menschen vernichten darf, was er als unreifer Mensch vor Jahren getan hat? Zweiundzwanzig Jahre war ich damals alt, litt unter dem zwiefachen Mißgeschick der Armut und der vornehmen Geburt, heutzutage zweier unverzeihlicher Fehler. Ist es gerecht, daß eine Jugendeselei, oder, wenn man schon von Vergehen sprechen will, ein jugendliches Vergehen, ein Leben wie das meine zerstört, mich an den Pranger stellt, alles das vernichtet, wofür ich gearbeitet, was ich aufgebaut habe? Ist das gerecht, Artur?

Lord Goring: Das Leben ist nun einmal nicht gerecht, Robert. Und vielleicht ist das noch das beste für die Mehrzahl von uns.

Sir Robert Chiltern: Jeder Mann, der Ehrgeiz besitzt, muß gegen seine Zeit mit ihren eigenen Waffen kämpfen. Der Götze unserer Zeit ist der Mammon, ihn betet man an. Um Erfolg zu haben, muß man reich sein. Reich muß man sein, coûte que coûte.

Lord Goring: Du taxierst dich selbst zu gering, Robert. Glaub' mir, auch ohne Geld hättest du erreichen können, was du tatsächlich erreicht hast.

Sir Robert Chiltern: Ja, aber erst als alter Mann; wenn ich den Willen zur Macht verloren, die Macht nicht mehr hätte gebrauchen können, wenn ich schon müde, zermürbt, enttäuscht gewesen wäre. Ich wollte Erfolg haben, solange ich noch jung war. Die Jugend ist die Zeit der Erfolge, ich konnte nicht warten.

Lord Goring: Du hast auch Erfolg gehabt, als du noch jung warst. Niemand in unserer Zeit hat einen so brillanten Erfolg gehabt. Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt mit noch nicht Vierzig – das dürfte jedem genügen, sollte ich meinen.

Sir Robert Chiltern: Und wenn man mir das alles nun nimmt? Wenn ich bei einem Riesenskandal alles verliere? Wenn man mich zu den Toten wirft?

Lord Goring: Robert, wie konntest du dich auch nur für Geld verkaufen?

Sir Robert Chiltern erregt: Ich habe mich nicht für Geld verkauft, ich habe Erfolg zu hohem Preise gekauft. So steht es.

Lord Goring gewichtig: Gewiß hast du einen hohen Preis bezahlt. Wie bist du aber zuerst auf diesen Gedanken verfallen?

Sir Robert Chiltern: Durch Baron Arnheim.

Lord Goring: Der verdammte Schuft!

Sir Robert Chiltern: Du irrst, er war ein Mann von höchst subtilem, feinem Geist. Ein Mann, der Kultur, Scharm und Distinktion besaß; einer der intellektuellsten Menschen, denen ich je begegnet bin.

Lord Goring: Nun, da ziehe ich schon einen beschränkten Gentleman vor. Überhaupt ließe sich über das Thema Beschränktheit mehr sagen, als die Leute glauben. Ich persönlich habe eine Vorliebe für beschränkte Menschen, vielleicht ist's eine Art von Mitgefühl. Wie kam er aber dazu? Erzähle mir doch den ganzen Sachverhalt.

Sir Robert Chiltern wirft sich in einen Fauteuil beim Schreibtisch: Eines Abends nach einem Diner bei Lord Radley erging sich der Baron in Betrachtungen über den Erfolg im modernen Leben; er stellte ihn als etwas dar, das sich in ein vollkommen geschlossenes, wissenschaftliches System bringen lasse. Mit jener wunderbar faszinierenden, ruhigen Stimme, die ihm eigen war, entwickelte er uns die ehernste der Philosophien, die Philosophie der Macht, verkündete er uns das wunderbarste der Evangelien, das Evangelium des Reichtums. Ich glaubte, er merkte den Eindruck, den er auf mich machte, denn einige Tage später schrieb er mir und bat mich, ihn zu besuchen. Er wohnte damals in Park Lane in dem Hause, das jetzt Lord Woolcomb gehört. Noch erinnere ich mich genau daran, wie er mich mit einem seltsamen Lächeln um seine blassen, verkniffenen Lippen durch seine wundervolle Bildergalerie führte, mir seine Gobelins, seine Emailsachen, seine Juwelen, seine Elfenbeinschnitzereien zeigte, mich den seltsamen Zauber des Luxus fühlen ließ, in dem er lebte; dann aber sagte er, daß Luxus an sich nichts sei, als eine Folie, als eine Kulissenlandschaft in einem Theaterstück, und daß die Macht, Macht über andere Menschen, Macht über die Welt allein den Besitz lohne. Macht, sagte er, sei das einzige, das höchste Vergnügen, das Wert besitze, Macht sei der einzige Genuß, der nie versage; und dann sagte er, daß heutzutage dies alles nur der Reichtum schaffen könne.

Lord Goring sehr überlegt: Eine durch und durch seichte Auffassung.

Sir Robert Chiltern: Ich dachte damals und denke auch heute noch anders. Dem Reichtum verdanke ich enorme Macht. Ihm danke ich vom Beginn meines Lebens an Unabhängigkeit, Unabhängigkeit, die alles bedeutet. Du, Artur, bist nie arm gewesen und hast nie gewußt, was Ehrgeiz heißt. Du kannst darum auch nicht begreifen, wie wunderbar die Chance war, die der Baron mir bot – eine Chance, wie sie nur wenigen Menschen zuteil ward.

Lord Goring: Zu ihrem Glück, wenn man nach den Resultaten urteilen darf. Aber jetzt erzähle mir ohne Rückhalt, wie dich der Baron schließlich dazu gebracht hat, zu – nun also, zu tun, was du getan hast.

Sir Robert Chiltern: Als ich ging, sagte er mir, er wolle mich reich machen, wenn ich ihm je eine Privatinformation von wirklichem Werte verschaffen könnte. Mich blendete die lockende Aussicht, die sich mir bot, und mein Ehrgeiz, meine Sucht nach Macht kannte zu jener Zeit keine Grenzen. Sechs Wochen später gingen Geheimpapiere durch meine Hände.

Lord Goring die Augen starr auf den Teppich gerichtet: Staatliche Dokumente?

Sir Robert Chiltern: Ja. Lord Goring seufzt, dann fährt er sich mit der Hand über die Stirne und blickt auf.

Lord Goring: Ich hätte nie geglaubt, daß unter allen Menschen auf der Welt gerade du, Robert, so schwach gewesen warst, einer solchen Versuchung zu unterliegen.

Sir Robert Chiltern: Schwach? Ich will dieses Wort nicht wieder hören, will es von andern nicht anwenden hören. Schwach? Glaubst du wirklich, Artur, daß Schwäche dazu gehört, einer Versuchung zu unterliegen? Ich sage dir, es gibt furchtbare Versuchungen, denen zu unterliegen man Kraft, Kraft und Mut haben muß. Um sein ganzes Leben auf eine Karte zu setzen, alles bei einem Satze zu riskieren, gehe es um Macht oder Genuß, einerlei, – dazu gehört nicht Schwäche. Dazu gehört kühner, todesverachtender Mut – und ich besaß den Mut dazu. Noch am selben Nachmittag setzte ich mich hin und schrieb dem Baron den Brief, den jenes Weib nun hat. Er hat bei dem Geschäft über dreiviertel Millionen verdient.

Lord Goring: Und du?

Sir Robert Chiltern: Ich erhielt hundertzehntausend Pfund von dem Baron.

Lord Goring: Du warst mehr wert, Robert.

Sir Robert Chiltern: Nein – das Geld hat mir gerade das verschafft, was ich benötigte, die Macht über andere. Unmittelbar darauf kam ich ins Parlament. Der Baron gab mir von Zeit zu Zeit seinen finanziellen Rat. Nach nicht ganz fünf Jahren war mein Vermögen beinahe verdreifacht. Seitdem ist mir alles zum Erfolg geworden, woran ich gerührt habe. In allem, was mit Geld zusammenhängt, habe ich seitdem so außerordentliches Glück gehabt, daß ich zuweilen fast selbst zitterte. Ich erinnere mich, einmal in einem seltsamen Buche gelesen zu haben, daß die Götter, wenn sie uns verderben wollen, unsere Gebete erhören.

Lord Goring: Nun sag mir aber, Robert, hast du deine Tat niemals bereut?

Sir Robert Chiltern: Nein, ich wußte, daß ich gegen meine Zeit mit ihren eigenen Waffen gekämpft und daß ich den Sieg errungen hatte.

Lord Goring traurig: Du glaubtest, gewonnen zu haben?

Sir Robert Chiltern: Ich glaubte es. Nach einer langen Pause: Artur, wirst du mich jetzt verachten, nachdem ich dir meine Geschichte erzählt habe?

Lord Goring mit tiefer Bewegung in seiner Stimme: Du tust mir so leid, Robert, so leid.

Sir Robert Chiltern: Ich könnte nicht sagen, daß mich mein Gewissen gedrückt hätte, ich fühlte keine Gewissensbisse. Jedenfalls nicht Gewissensbisse in der gewöhnlichen, eher lächerlichen Bedeutung des Wortes. Aber mit Gewissensmünze hab' ich gar oft gezahlt. Ich hegte eine wilde Hoffnung, das Schicksal zu entwaffnen. Mehr als die doppelte Summe, die mir Baron Arnheim gab, habe ich seitdem für wohltätige Zwecke gespendet.

Lord Goring aufblickend: Für wohltätige Zwecke? Großer Gott, wieviel Unheil mußt du angerichtet haben.

Sir Robert Chiltern: Sag' das nicht, Artur, sprich nicht so.

Lord Goring: Kümmere dich nicht um das, was ich sage, Robert. Ich sage immer das, was ich nicht sagen sollte. Tatsächlich sage ich gewöhnlich das, was ich mir wirklich denke – heutzutage ein großer Fehler. Man ist fortwährend Mißverständnissen ausgesetzt. Aber um auf diese unangenehme Affäre zurückzukommen, daß ich dir nach besten Kräften helfen will, weißt du ja selbst.

Sir Robert Chiltern: Ich danke dir, Artur, ich danke dir. Aber was soll geschehen, was kann geschehen?

Lord Goring lehnt sich zurück, die Hände in den Taschen: Nun, der Engländer verträgt es nicht, wenn jemand in einem fort behauptet, den richtigen Weg zu gehen, sondern er schwärmt für einen Sünder, der getanes Unrecht von selber eingesteht – eine seiner besten Eigenschaften. Trotzdem, Robert, würde in deinem Falle eine Beichte nicht genügen. Das Geld, wenn du mir dies Wort gestatten willst, ist … das Ungeschickte daran. Und überdies könntest du nicht mehr die Moralpauke schlagen, wenn du einmal in deiner Sache »Pater peccavi!« gerufen hast. In England aber hat ein Mann, der nicht mindestens zweimal in der Woche die Moralpauke vor einem stattlichen gewöhnlichen und unmoralischen Publikum schlagen kann, als seriöser Politiker den Boden verloren, ihm bleibt als Beruf höchstens noch Botanik oder die Kirche. Eine Beichte hätte also keinen Sinn, sie würde dich nur ruinieren.

Sir Robert Chiltern: Sie wäre mein Ruin. Artur, der einzige Weg, der mir bleibt, ist, die Sache durchzukämpfen.

Lord Goring sich von seinem Sessel erhebend: Ich habe nur darauf gewartet, daß du das sagst, Robert. Es ist der einzige Weg, den du nehmen kannst. Und den Anfang mußt du damit machen, deiner Frau die ganze Geschichte zu erzählen.

Sir Robert Chiltern: Das werde ich nicht.

Lord Goring: Robert, du setzt dich ins Unrecht, glaube mir.

Sir Robert Chiltern: Ich könnte es nicht, es wäre der Tod der Liebe, die sie zu mir hegt. Aber dieses Weib, diese Mrs. Cheveley – wie kann ich mich vor ihr schützen? Du kennst sie doch von früher her, Artur?

Lord Goring: Ja.

Sir Robert Chiltern: Kanntest du sie genau?

Lord Goring seine Krawatte richtend: So wenig genau, daß ich mich sogar schon einmal mit ihr verlobt habe, als ich in Tenby zu Gaste war. Die Affäre hat … ungefähr drei Tage gedauert.

Sir Robert Chiltern: Warum hat sich die Sache zerschlagen?

Lord Goring leichthin: Ich habe es schon vergessen, schließlich kommt es auch nicht darauf an. Aber immerhin, hast du es schon mit Geld bei ihr probiert? Sie war seinerzeit verdammt hinter dem Gelde her.

Sir Robert Chiltern: Ich habe ihr jeden Betrag angeboten, sie hat refusiert.

Lord Goring: So stürzt mitunter auch der wunderbare Götze Gold zusammen? Vermag also Reichtum doch nicht alles?

Sir Robert Chiltern: Nicht alles, ich glaube, da hast du recht. Ich bin überzeugt, daß mir ein ungeheurer Skandal droht, ich bin ganz überzeugt davon. Früher habe ich nicht gewußt, was Angst bedeutet, jetzt weiß ich es: Als ob sich einem eine eisige Hand aufs Herz legen, als ob sich das eigene Herz in einem leeren Raum zu Tode klopfen wollte.

Lord Goring auf den Tisch schlagend: Robert, du mußt es mit ihr aufnehmen, du mußt, du mußt es.

Sir Robert Chiltern: Wie aber?

Lord Goring: Das kann ich dir jetzt nicht sagen, ich habe nicht die geringste Vorstellung. Aber jedermann hat eine Achillesferse, – eine verwundbare Stelle hat jeder von uns. Er schlendert zum Kamin und besieht sich im Spiegel. Mein Papa sagt, daß sogar ich Fehler habe. Vielleicht habe ich welche, ich weiß es nicht.

Sir Robert Chiltern: Wenn ich mich gegen Mrs. Cheveley schützen muß, so bin ich doch berechtigt, mich jeder Waffe zu bedienen, die ich finde, nicht?

Lord Goring sich noch immer im Spiegel betrachtend: An deiner Stelle, glaube ich, würde ich mir nicht die geringsten Skrupel daraus machen, so vorzugehen. Sie ist findig genug, sich selbst zu schützen.

Sir Robert Chiltern setzt sich zum Tische und ergreift eine Feder: Gut, ich will eine chiffrierte Depesche an die Gesandtschaft nach Wien richten und in Erfahrung bringen, ob gegen sie etwas vorliegt. Vielleicht gibt es irgendeinen geheimen Skandal, vor dem sie Angst hat.

Lord Goring seine Knopflochblume richtend: Oho, ich möchte meinen, Mrs. Cheveley sei eine von den hochmodernen Frauen, die einen neuen Skandal so kleidsam finden wie einen neuen Hut, und beide jeden Nachmittag um halb sechs Uhr im Park spazieren führen. Ich bin überzeugt, daß sie Skandal liebt, und daß der Kummer ihres Lebens momentan darin besteht, daß sie es nicht erreichen kann, Skandal genug zu haben.

Sir Robert Chiltern schreibend: Warum sagst du das?

Lord Goring sich umdrehend: Nun, man sah bei ihr gestern nacht zu viel Rouge und zu wenig Toilette. Das bedeutet bei den Weibern immer inneren Kummer.

Sir Robert Chiltern eine Glocke ziehend: Aber ist es überhaupt der Mühe wert, daß ich nach Wien telegraphiere?

Lord Goring: Fragen sind immer der Mühe wert, Antworten nicht immer. Mason erscheint.

Sir Robert Chiltern: Ist Mr. Trafford in seinem Zimmer?

Mason: Zu dienen, Sir Robert.

Sir Robert Chiltern gibt das beschriebene Papier in ein Kuvert, das er sorgfältig verschließt: Sagen Sie ihm, er möchte das sofort chiffriert absenden. Es duldet nicht einen Moment Verzug.

Mason: Zu dienen, Sir Robert.

Sir Robert Chiltern: Halt, geben Sie es mir noch einmal zurück. Er schreibt etwas auf das Kuvert. Mason nimmt den Brief und verläßt das Zimmer.

Sir Robert Chiltern: Sie muß eine seltsame Macht über den Baron besessen haben; ich möchte wissen, was es war.

Lord Goring lächelnd: Möchte ich auch wissen.

Sir Robert Chiltern: Ich will mit ihr bis aufs Messer kämpfen, wenn nur meine Frau von der Sache nichts weiß.

Lord Goring energisch: Oh, kämpfe mit ihr auf jeden Fall!

Sir Robert Chiltern mit einer Gebärde der Verzweiflung: Wenn meine Frau davon erfährt, dann gibt es wenig mehr zu kämpfen. Sobald ich etwas aus Wien erfahre, laß ich dich die Antwort wissen. Es ist eine Chance, nur eine Chance, aber ich setze meine Hoffnung darauf. Und wie ich gegen meine Zeit mit ihren eigenen Waffen gekämpft habe, so will ich auch gegen sie mit ihren eigenen Waffen kämpfen. Es ist nur gerecht, sie ist eine Frau, der man ihre Vergangenheit ansieht.

Lord Goring: Den meisten hübschen Frauen sieht man eine Vergangenheit an. Aber zwischen Vergangenheit und Vergangenheit gibt es Unterschiede, wie es bei Kleidern verschiedene Moden gibt. Vielleicht ist die Vergangenheit der Mrs. Cheveley nur ein starkes Dekolleté, und die sind heute besonders in Mode. Im übrigen, mein lieber Robert, würde ich meine Hoffnung nicht zu stark darauf setzen, Mrs. Cheveley Furcht einzujagen, ich halte Mrs. Cheveley nicht für die Frau, die sich so leicht ins Bockshorn jagen läßt. Sie hat alle ihre Gläubiger überlebt und beweist erstaunliche Geistesgegenwart.

Sir Robert Chiltern: Ich lebe jetzt nur von Hoffnung, ich klammere mich an jeden Zufall. Mir geht es wie dem Manne auf dem sinkenden Schiffe, das Wasser reicht mir schon an die Füße, rauher Sturm fegt durch die Luft. Aber still, ich höre die Stimme meiner Frau.

Lady Chiltern in Straßentoilette.

Lady Chiltern: Guten Tag, Lord Goring.

Lord Goring: Guten Tag, Lady Chiltern! Sind Sie im Park gewesen?

Lady Chiltern: Nein, ich komme eben aus dem liberalen Frauenverein. A propos, Robert, dein Name wurde dort mit lebhaftem Beifall aufgenommen. Jetzt will ich Tee trinken. Zu Lord Goring: Wollen Sie bleiben und den Tee mit uns nehmen?

Lord Goring: Danke, ich werde noch ein bißchen bleiben.

Lady Chiltern: In einem Augenblick bin ich zurück, ich will nur den Hut ablegen.

Lord Goring in seiner ernsthaftesten Manier: Bitte, tun Sie das nicht. Er ist so hübsch, ist einer der hübschesten Hüte, die ich je gesehen habe. Hoffentlich hat der liberale Frauenverein auch ihn mit lebhaftem Beifall aufgenommen.

Lady Chiltern mit einem Lächeln: Wir haben Wichtigeres zu tun, als unsere Hüte zu beobachten, Lord Goring.

Lord Goring: Wirklich? Zum Beispiel?

Lady Chiltern: Ach, entzückend langweilige und praktische Dinge, Fabriksgesetzgebung, weibliche Gewerbeinspektoren, die Achtstundenbill, allgemeines Wahlrecht … Lauter Sachen, die Sie vollkommen uninteressant finden würden.

Lord Goring: Und Hüte niemals?

Lady Chiltern mit komischer Entrüstung: Nein, Hüte niemals! Lady Chiltern geht durch die Türe, die in ihr Boudoir führt.

Sir Robert Chiltern ergreift Lord Gorings Hand: Du warst mir stets ein guter Freund, Artur, ein aufrichtig ergebener Freund.

Lord Goring: Ich glaube nicht, daß ich bisher viel für dich tun konnte; soweit ich es beurteilen kann, war ich de facto noch nie in der Lage, etwas für dich zu tun. Ich bin mit mir sehr unzufrieden.

Sir Robert Chiltern: Du hast es mir ermöglicht, dir die Wahrheit zu sagen, das ist schon etwas. Die Wahrheit zu sagen, hat mich bisher immer gequält.

Lord Goring: Nun, die Wahrheit ist etwas, was ich wiederum möglichst rasch an den Mann zu bringen suche. Schlechte Gewohnheit, unter uns gesagt, macht sehr unbeliebt im Klub … bei den älteren Mitgliedern. Sie nennen es eingebildet sein. Vielleicht sind sie im Recht.

Sir Robert Chiltern: Wollte Gott, ich hätte die Wahrheit sagen können, hätte die Wahrheit leben können. Das ist das Große im Leben! Geht seufzend zur Türe. Ich sehe dich doch noch, Artur?

Lord Goring: Gewiß, wann immer du willst. Ich will heute noch auf den Junggesellenball, wenn sich nichts Besseres ergibt. Morgen früh will ich dann vorsprechen; wenn du aber heute abend vielleicht zufällig noch etwas von mir brauchst, so schicke mir ein paar Zeilen nach Curzon Street.

Sir Robert Chiltern: Ich danke dir. Wie er zur Tür geht, tritt Lady Chiltern aus ihrem Boudoir.

Lady Chiltern: Du gehst doch nicht fort, Robert?

Sir Robert Chiltern: Ich muß noch mehrere Briefe schreiben, Kind.

Lady Chiltern tritt näher zu ihm: Du arbeitest zu viel, Robert. Man merkt [dir an], daß du dich nicht schonst, du siehst so abgespannt aus.

Sir Robert Chiltern: Es ist nicht so arg, Kind, nicht so arg. Er küßt ihr die Hand und geht.

Lady Chiltern zu Lord Goring: Nehmen Sie Platz. Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind, ich muß mit Ihnen sprechen, und zwar über … nun, nicht über Hüte oder über den liberalen Frauenverein. Fürs erste haben Sie viel zu viel, fürs zweite nicht annähernd genug Interesse.

Lord Goring: Sie wollen mit mir über Mrs. Cheveley sprechen?

Lady Chiltern: Ja, Sie haben es erraten. Nachdem Sie gestern nacht fortgegangen sind, habe ich herausgebracht, daß sie die Wahrheit gesagt hat. Ich habe Robert bewogen, ihr sofort einen Brief zu schreiben, in dem er sein Versprechen zurückzog.

Lord Goring: Dasselbe gab er mir zu verstehen.

Lady Chiltern: Hätte er sein Versprechen gehalten, so wäre es der erste Makel einer Karriere gewesen, die bis jetzt immer makellos gewesen ist. Robert muß über allen Vorwurf erhaben sein, er ist nicht wie andere Männer, in seiner Natur liegt es, nicht zu handeln, wie andre Männer. Sie blickt Lord Goring an, der sich schweigend verhält. Sind Sie nicht derselben Ansicht? Sie sind doch Roberts bester Freund, Sie sind unser bester Freund, Lord Goring. Niemand außer mir kennt Robert besser. Vor mir hat er kein Geheimnis und, wie ich glaube, auch vor Ihnen nicht.

Lord Goring: Vor mir hat er sicher kein Geheimnis, wenigstens glaube ich es.

Lady Chiltern: Beurteile ich ihn also unrichtig? Ich habe sicher recht. Sprechen Sie doch aufrichtig!

Lord Goring ihr frei ins Gesicht blickend: Ganz aufrichtig?

Lady Chiltern: Gewiß, Sie haben doch nichts zu verhehlen?

Lord Goring: Nein; ich denke aber, teure Lady Chiltern, daß im realen Leben, wenn ich mich dieses Ausdruckes bedienen darf –

Lady Chiltern lächelnd: Im realen Leben, von dem Sie, Lord Goring, so wenig verstehen –

Lord Goring: Aus direkter Erfahrung allerdings wenig, aber manches aus meinen Beobachtungen. Ich denke also, daß im realen Leben, beim Erfolg, beim momentanen Erfolg öfter, und beim Ehrgeiz stets eine gewisse Skrupellosigkeit mitspielt. Wenn ein Mensch einmal sein Herz und seine Seele an eine Sache gehängt hat, und dabei eine Klippe erklimmen muß, so erklimmt er sie eben; und wenn er dabei in den Sumpf steigen muß –

Lady Chiltern: Nun?

Lord Goring: So steigt er eben in den Sumpf. Natürlich spreche ich bloß im allgemeinen über das Leben.

Lady Chiltern ernst: Das will ich hoffen. Warum sehen Sie mich so sonderbar an, Lord Goring?

Lord Goring: Lady Chiltern, ich habe mir zuweilen gedacht, daß … daß Sie vielleicht in mancher Beziehung zu hohe Ansprüche ans Leben stellen. Ich denke zuweilen, daß … daß Sie nicht genug Konzessionen machen. Jede Natur hat gewisse Anlagen zur Schwäche, oder zu noch Ärgerem als Schwäche. Nehmen wir zum Beispiel an, daß irgend jemand, der im öffentlichen Leben steht, mein Vater, oder sagen wir Robert, vor Jahren irgend jemand einen unüberlegten Brief geschrieben hätte …

Lady Chiltern: Was verstehen Sie unter einem »unüberlegten« Brief?

Lord Goring: Einen Brief, der die gesellschaftliche Stellung des Briefschreibers schwer kompromittiert. Ich nehme ja nur einen imaginären Fall.

Lady Chiltern: Robert ist ebenso unfähig, eine Torheit, wie ein Unrecht zu begehen.

Lord Goring nach einer langen Pause: Niemand ist unfähig, eine Torheit zu begehen, niemand ist aber auch unfähig, ein Unrecht zu begehen.

Lady Chiltern: Sind Sie ein solcher Pessimist? Was werden die andern Dandys dazu sagen? Sie werden alle Trauer tragen müssen.

Lord Goring erhebt sich: Nein, Lady Chiltern, ich bin kein Pessimist. Ich weiß nicht einmal, ob ich genau verstehe, was Pessimismus bedeutet. Aber was ich genau verstehe, ist, daß das Leben ohne eine ordentliche Portion Nachsicht nicht begriffen, und ohne dieselbe Portion Nachsicht überhaupt nicht gelebt werden kann. Liebe, nicht deutsche Philosophie ist es, die uns die wahre Deutung dieser Welt gibt, wie immer man auch die nächste deuten mag. Und wenn Sie jemals in Ungelegenheiten geraten, Lady Chiltern, so schenken Sie mir Ihr Vertrauen, absolutes Vertrauen, und ich will Ihnen helfen, soweit ich es nur vermag. Wenn Sie meiner je bedürfen, so rufen Sie meinen Beistand an, und Sie sollen ihn haben. Tun Sie es dann sofort!

Lady Chiltern ihn überrascht anblickend: Lord Goring, Sie sprechen ja im vollen Ernste. Mir scheint, ich habe Sie noch nie so ernsthaft sprechen hören.

Lord Goring lachend: Sie müssen entschuldigen, Lady Chiltern, es soll nicht wieder vorkommen, soweit es von mir abhängt.

Lady Chiltern: Aber mir gefällt es, wenn Sie [ernst] sind. Mabel Chiltern, in einem entzückenden Kostüm, eilt herein.

Mabel Chiltern: Liebe Gertrud, sag, doch zu Lord Goring nicht so entsetzliche Dinge. Seriös sein wäre absolut nichts für ihn. Guten Tag, Lord Goring! Bitte, sein Sie freundlichst so trivial wie möglich.

Lord Goring: Ich wäre es selbst gerne, Miß Mabel, aber leider bin ich heute … ein wenig aus der Übung; und dann muß ich schon gehen.

Mabel Chiltern: Gerade dann, wenn ich komme. Was für abscheuliche Manieren Sie haben! Sie haben sicher eine sehr schlechte Erziehung genossen.

Lord Goring: So ist's.

Mabel Chiltern: Ich wollte, ich hätte Sie erziehen dürfen.

Lord Goring: Schade, daß das nicht geschehen ist.

Mabel Chiltern: Jetzt ist es wohl schon zu spät dazu.

Lord Goring lächelnd: Weiß ich nicht so gewiß.

Mabel Chiltern: Wollen Sie morgen früh ausreiten?

Lord Goring: Ja, um 10 Uhr.

Mabel Chiltern: Vergessen Sie es nicht!

Lord Goring: Gewiß nicht. Apropos, in der heutigen »Morning-Post« fehlt die Liste Ihrer Gäste, Lady Chiltern. Sie ist wahrscheinlich weggefallen, weil man den Stadtverordnetenbericht oder die Bischofskonferenz oder anderen Stumpfsinn bringen mußte. Könnte ich durch Sie eine Liste bekommen? Ich habe besondere Gründe für meine Bitte.

Lady Chiltern: Mr. Trafford wird Sie Ihnen sicher geben können.

Lord Goring: Meinen ganz besonderen Dank.

Mabel Chiltern: Tommy ist das nützlichste Geschöpf von ganz London.

Lord Goring sich zu ihr wendend: Und wer ist das dekorativste?

Mabel Chiltern triumphierend: Ich!

Lord Goring: Wie geschickt Sie das erraten haben. Nimmt Stock und Hut. Adieu, Lady Chiltern. Sie werden nicht vergessen, was ich Ihnen heute gesagt habe?

Lady Chiltern: Nein, wenn ich auch nicht verstehe, warum Sie mir es gesagt haben.

Lord Goring: Weiß ich es doch selbst kaum. Adieu, Miß Mabel.

Mabel Chiltern mit einer leichten Bewegung der Enttäuschung: Ich wollte, Sie gingen noch nicht. Ich habe heute morgen vier wundervolle Abenteuer erlebt, eigentlich viereinhalb. Bleiben Sie und hören Sie einige davon …

Lord Goring: Wie egoistisch von Ihnen, gleich viereinhalb zu erleben. Was bleibt da für mich übrig?

Mabel Chiltern: Ich möchte gar nicht, daß für Sie welche bleiben, sie würden Ihnen nicht bekommen.

Lord Goring: Das erste unfreundliche Wort, das Sie je zu mir gesprochen haben. Wie entzückend es aber herausgekommen ist! Also morgen um zehn Uhr.

Mabel Chiltern: Auf die Sekunde.

Lord Goring: Genau. Aber, ich bitte, Mr. Trafford nicht mitzubringen.

Mabel Chiltern mit einem leichten Schütteln des Kopfes: Gewiß werde ich Tommy Trafford nicht mitbringen. Tommy Trafford ist stark in Ungnade.

Lord Goring: Entzückt, das zu hören. Mit einer Verbeugung ab.

Mabel Chiltern: Gertrud, ich möchte, daß du mit Tommy Trafford sprichst.

Lady Chiltern: Was hat der arme Mr. Trafford schon wieder angestellt? Robert sagt, er sei der beste Sekretär, den er je gehabt habe.

Mabel Chiltern: Nun, Tommy hat wieder einmal um mich angehalten. Tommy treibt wirklich nichts anderes mehr, als um mich anzuhalten. Er hat um mich angehalten, als ich ganz schutzlos war, weil gerade ein schwieriges Trio anfing. Daß ich nicht das geringste zu erwidern wagte, brauche ich dir wohl nicht erst zu sagen, die Musik hätte sofort im Spiele aufgehört. Musikalische Menschen sind so unvernünftig. Sie verlangen, daß man gerade dann vollkommen stumm sei, wenn man selbst am liebsten vollkommen taub sein möchte. – Dann hat Tommy heute morgen bei vollem Tageslicht vor der gräßlichen Achillesstatue [um mich] angehalten. Die Dinge, die sich vor diesem Kunstwerke abspielen, sind wahrhaft erschreckend, die Polizei sollte intervenieren. Beim Lunch merkte ich am Glanze seiner Augen, daß er mir schon wieder einen Antrag machen wolle, und nur dadurch konnte ich ihn für einige Zeit bändigen, daß ich ihm vormachte, ich sei Bimetallistin. Glücklicherweise weiß ich nicht, was Bimetallismus bedeutet; übrigens glaube ich, daß es auch niemand anders weiß. Jedenfalls vernichtete diese Bemerkung Tommy für zehn Minuten. Er schaute ganz erschrocken drein. Dann ist Tommy auch so lästig in der Art seiner Werbung. Wenn er mir seine Wünsche laut sagte, so würde ich mir daraus nichts machen. Das könnte auf die Zuhörer noch einigermaßen wirken. Aber er tut es in einer so schrecklich vertraulichen Art. Wenn Tommy romantisch sein will, spricht er zu einem wie der Doktor. Ich habe Tommy sehr gerne, aber seine Methode, Anträge zu machen, ist ganz vieux jeu. Ich möchte, daß du mit ihm sprichst, Gertrud, und ihm sagst, es genüge vollkommen, wenn er einmal wöchentlich seinen Antrag macht, und daß es in einer Fasson geschehen müsse, die die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkt.

Lady Chiltern: Sprich doch nicht so, liebe Mabel! Übrigens hält Robert sehr viel von Mr. Trafford. Er glaubt, daß er eine große Zukunft hat.

Mabel Chiltern: Oh, ich möchte nicht um alles in der Welt jemand heiraten, der eine Zukunft vor sich hat.

Lady Chiltern: Mabel!

Mabel Chiltern: Ich weiß, was du meinst, liebe Gertrud. Auch du hast einen Mann mit einer Zukunft geheiratet, nicht wahr? Aber Robert war ein Genie, und du hast einen edeln, opferwilligen Charakter. Du kannst die Genies vertragen. Ich aber habe gar keinen Charakter, und Robert ist das einzige Genie, das ich je leiden konnte. Im allgemeinen finde ich Genies ganz unerträglich, sie sprechen so viel, nicht? Das ist eine sehr schlechte Gewohnheit. Und dann denken sie nur immer an sich selbst, während ich möchte, daß sie an mich denken sollen. Jetzt muß ich zu Lady Basildon, es ist dort Probe. Du weißt ja, wir stellen lebende Bilder. Der Triumph von irgend etwas, wovon, weiß ich selbst nicht. Hoffentlich wird es mein Triumph sein, das ist der einzige, der mich momentan wirklich interessiert. Küßt Lady Chiltern und geht aus dem Zimmer; gleich darauf kommt sie eilig zurück. O Gertrud, rate, wer dich besucht? Die gräßliche Mrs. Cheveley in einer entzückenden Toilette. Hast du sie aufgefordert?

Lady Chiltern sich erhebend: Mrs. Cheveley! Zu mir? Unmöglich!

Mabel Chiltern: Ich sage dir aber, sie steigt gerade in Lebensgröße voll Affektation die Treppe herauf.

Lady Chiltern: Du brauchst nicht hier zu bleiben, Mabel. Vergiß nicht, daß Lady Basildon dich erwartet!

Mabel Chiltern: Oh, ich muß Mrs. Markby begrüßen. Sie ist köstlich, ich lasse mich von ihr so gern auszanken.

Mason meldet an: Lady Markby. Mrs. Cheveley. Lady Markby und Mrs. Cheveley treten ein.

Lady Chiltern geht ihnen entgegen: Wie freundlich von Ihnen, Lady Markby, mich zu besuchen! Reicht ihr die Hand und verbeugt sich ziemlich förmlich gegen Mrs. Cheveley. Wollen Sie nicht Platz nehmen, Mrs. Cheveley?

Mrs. Cheveley: Ich danke. Ist das nicht Miß Chiltern? Ich möchte sie so gerne kennenlernen.

Lady Chiltern: Mabel, Mrs. Cheveley wünscht deine Bekanntschaft zu machen. Mabel Chiltern nickt leicht mit dem Kopf.

Mrs. Cheveley Platz nehmend: Ich habe Ihr Kleid gestern abend so reizend gefunden, Miß Chiltern. So einfach und – passend.

Mabel Chiltern: Wirklich? Das muß ich meiner Schneiderin sagen, sie wird sehr überrascht sein. Adieu, Lady Markby.

Lady Markby: Sie gehen schon?

Mabel Chiltern: Es tut mir sehr leid, ich muß zu einer Probe – lebende Bilder, bei denen ich auf dem Kopfe stehen soll.

Lady Markby: Auf dem Kopfe, Kind? Na, das hoffe ich denn doch nicht. Ich halte das für sehr ungesund. Setzt sich neben Lady Chiltern auf das Sofa.

Mabel Chiltern: Aber es geschieht für einen sehr wohltätigen Zweck: zugunsten der Arbeitslosen, der einzigen Menschen, die mich interessieren. Ich bin Sekretär und Tommy Trafford Kassierer.

Mrs. Cheveley: Und Lord Goring?

Mabel Chiltern: Oh, Lord Goring ist Präsident.

Mrs. Cheveley: Diese Stelle muß ihm ausgezeichnet konvenieren, wenn er sich nicht zu seinem Nachteil verändert hat, seitdem ich ihn kennenlernte.

Lady Markby nachdenklich: Sie sind außerordentlich modern, Mabel, vielleicht ein bißchen zu modern. Nichts ist so gefährlich, als das Modernsein zu übertreiben. Man wird dann leicht auf einmal altmodisch. Mir sind viele solche Fälle bekannt.

Mabel Chiltern: Welch schreckliche Aussicht.

Lady Markby: Nun, mein Kind, Sie brauchen sich nicht zu fürchten, Sie werden immer die Hübscheste sein. Das ist die beste Methode, die es gibt, und die einzige, in der England den Ton angeben kann.

Mabel Chiltern mit einer Verbeugung: Besten Dank, Lady Markby, in Englands – und in meinem Namen. Ab.

Lady Markby sich an Lady Chiltern wendend: Liebe Gertrud, wir möchten gern wissen, ob sich Mrs. Cheveleys Brillantbrosche gefunden hat.

Lady Chiltern: Hier?

Mrs. Cheveley: Ja, ich habe den Verlust entdeckt, wie ich ins Claridge-Hotel zurückkam, und habe mir gedacht, daß ich sie vielleicht hier verloren habe.

Lady Chiltern: Mir ist nichts davon bekannt. Aber ich will den Diener rufen lassen und ihn fragen. Sie klingelt.

Mrs. Cheveley: Oh, bitte, bemühen Sie sich nicht, Lady Chiltern. Ich kann sie auch in der Oper verloren haben, bevor wir hierher kamen.

Lady Markby: Ja, Sie werden sie gewiß in der Oper verloren haben. Es ist Tatsache, daß wir heutzutage alle so viel herumgejagt und gestoßen werden, daß es ein Wunder ist, wenn am Schluß des Abends noch irgend etwas auf uns geblieben ist. Wenn ich einen Salon verlasse, habe ich immer das bestimmte Gefühl, als wäre kein Fetzen mehr auf mir außer einem kleinen »Anstandsfetzen«, das heißt gerade genug, um zu verhindern, daß der Pöbel durch die Fenster des Wagens anzügliche Bemerkungen macht. Unsere Gesellschaft ist eben schrecklich übervölkert. Es sollte jemand ein eigenes Projekt zur Unterstützung der Auswanderung ins Leben rufen, das täte wirklich gut.

Mrs. Cheveley: Ich bin ganz Ihrer Ansicht, Lady Markby. Es sind beinahe sechs Jahre her, seitdem ich zur Saison in London war, und ich muß sagen, daß unterdessen die Gesellschaft sehr gemischt geworden ist. Man sieht überall die sonderbarsten Leute.

Lady Markby: Ganz richtig, liebe Mrs. Cheveley. Aber man braucht sie nicht zu kennen. Ich kenne gewiß nicht die Hälfte der Leute, die in mein Haus kommen. Nach allem, was ich höre, wäre mir das auch nicht angenehm. Mason tritt ein.

Lady Chiltern: Was für eine Brosche war das, die Sie verloren haben, Mrs. Cheveley?

Mrs. Cheveley: Eine Schlange aus Brillanten mit einem Rubin, einem ziemlich großen Rubin.

Lady Markby: Sagten Sie nicht, daß sie auf dem Kopfe einen Saphir hat, Mrs. Cheveley?

Mrs. Cheveley lächelnd: Nein, Lady Markby – einen Rubin.

Lady Markby kopfschüttelnd: Das muß gewiß sehr schick sein.

Lady Chiltern: Ist heute früh nicht eine Brosche mit Rubinen und Brillanten in einem der Zimmer gefunden worden, Mason?

Mason: Nein, Mylady.

Mrs. Cheveley: Es macht wirklich nichts, Lady Chiltern! Ich bedaure, Ihnen solche Mühe zu machen.

Lady Chiltern kühl: O bitte, es macht mir keine Mühe. Es ist gut, Mason. Sie können den Tee bringen. Mason ab.

Lady Markby: Ich muß sagen, etwas zu verlieren, ist sehr ärgerlich. Ich erinnere mich, vor Jahren in der Trinkhalle in Bath ein besonders schönes Kameenarmband verloren zu haben, das mir Sir John geschenkt hatte. Zu meinem Bedauern muß ich konstatieren, daß er mir seither nichts mehr geschenkt hat. Er hat sich sehr zu seinen Ungunsten verändert. Das abscheuliche Parlament verdirbt uns die Ehemänner gänzlich. Ich halte das Unterhaus mit Ausnahme des schrecklichen Zeugs, genannt die höhere Erziehung der Frau, für den schwersten Schlag, der ein harmonisches Familienleben treffen konnte.

Lady Chiltern: Oho, Lady Markby, das wäre Ketzerei, so etwas in diesem Hause zu sagen. Robert ist ein eifriger Verfechter der höheren Erziehung der Frauen, und ich fürchte, auch ich bin es.

Mrs. Cheveley: Ich würde lieber die höhere Erziehung der Männer sehen, sie brauchen sie notwendiger.

Lady Markby: Da haben Sie recht, liebe Mrs. Cheveley. Aber ich fürchte, daß ein solches Unternehmen ganz undurchführbar wäre. Meines Erachtens sind die Männer nicht genug entwicklungsfähig. Der Mann hat es soweit gebracht, wie er kann, und das heißt nicht viel, nicht wahr? Was die Frauen anbelangt, liebe Gertrud, so müssen Sie wissen, daß sie einer jüngeren Generation angehören und sich somit mit vollem Recht damit einverstanden erklären. Zu meiner Zeit lehrte man uns überhaupt nichts zu verstehen. Das war das alte System, und es war ungemein interessant. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß die Zahl der Dinge, die meine liebe, arme Schwester und ich nicht verstehen durfte, außerordentlich groß war. Aber von den modernen Frauen höre ich, daß sie alles verstehen.

Mrs. Cheveley: Außer ihre Ehemänner. Das ist das einzige, was moderne Frauen nie verstehen.

Lady Markby: Und das, liebe Mrs. Cheveley, halte ich für sehr gut. Manch glückliches Heim könnte zerstört werden, wenn es anders wäre. Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß ich damit nicht auf Ihr Haus anspiele, liebe Gertrud. Sie haben einen Mustergatten geheiratet. Ich wollte, ich könnte das auch von mir sagen. Aber seitdem Sir John sich angewöhnt hat, den Debatten regelmäßig beizuwohnen, was er in seinen guten alten Tagen nie getan hat, ist seine Sprechweise ganz unmöglich geworden. Er scheint immer vom Wahn befangen zu sein, sich ans Parlament zu wenden, und ich muß alle Diener aus dem Zimmer schicken, wenn er sich über die Lage der Landwirtschaft oder der Walliser Kirche oder sonst über etwas Unpassendes dieser Art verbreitet. Es ist kein angenehmer Anblick, wenn der Kammerdiener, der dreiundzwanzig Jahre im Hause ist, beim Büfett rot wird, und die Diener in den Ecken sich winden wie die Zirkusclowns. Mein Leben wird sicherlich noch ganz zerstört werden, wenn Sir John nicht baldigst ins Oberhaus berufen wird. Dann wird er sich kaum mehr für Politik interessieren, nicht wahr? Das Oberhaus ist so verständig, es ist eine Versammlung von Gentlemen. Aber in seiner momentanen Verfassung ist Sir John wirklich eine große Plage. Denken Sie nur, heute stellte er sich, bevor wir mit dem Frühstück fertig waren, zum Kamin, steckte die Hände in die Taschen und appellierte mit dem Aufgebot seiner gesamten Stimmittel ans Volk. Ich brauche kaum zu sagen, daß ich den Tisch verließ, sowie ich die zweite Tasse Tee genommen hatte. Aber sein lautes Reden war im ganzen Haus zu hören! Ich hoffe, Gertrud, daß Sir Robert es nicht ebenso treibt?

Lady Chiltern: Ich interessiere mich sehr für Politik, Lady Markby, und höre Robert gerne zu, wenn er darüber spricht.

Lady Markby: Nun, ich hoffe, daß er auf Blaubücher nicht so versessen ist, wie Sir John. Ich glaube nicht, daß ihre Lektüre auf irgend jemand verbessernd einwirken kann.

Mrs. Cheveley nachlässig: Ich habe nie ein Blaubuch gelesen. Ich ziehe Bücher – in gelben Umschlägen vor.

Lady Markby mit heiterer Naivität: Gelb ist eine freundliche Farbe, nicht wahr? In meiner Jugend habe ich oft gelbe Kleider getragen und würde es noch jetzt tun, wenn Sir John mit seinen Bemerkungen nicht so schrecklich persönlich wäre; die Männer sind so komisch, wenn sie sich um Kleider kümmern, nicht wahr?

Mrs. Cheveley: Ich finde im Gegenteile, daß in Toilettefragen nur die Männer Autorität sind.

Lady Markby: Wirklich? Das möchte man nach der Fasson ihrer Hüte nicht glauben, wie? Der Kammerdiener tritt ein, der Bediente folgt ihm. Auf einem kleinen Tischchen, das neben Lady Chiltern steht, wird Tee serviert.

Lady Chiltern: Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, Mrs. Cheveley?

Mrs. Cheveley: Wenn ich bitten darf. Der Kammerdiener reicht Mrs. Cheveley auf einem Servierbrett eine Tasse Tee.

Lady Chiltern: Eine Tasse Tee, Lady Markby?

Lady Markby: Nein, ich danke, meine Liebe. Die Diener gehen ab. Ich habe versprochen, noch einen Sprung zu der armen Lady Brancaster zu machen, die in großen Sorgen ist. Ihre Tochter, ein durch und durch wohlerzogenes Mädchen, hat sich richtig mit einem Hilfsgeistlichen aus Stropshire verlobt. Das ist wirklich sehr, sehr traurig. Ich kann diese moderne Manie für Hilfsgeistliche nicht begreifen. Zu meiner Zeit haben wir Mädchen sie natürlich auch wie Kaninchen herumlaufen sehen. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß wir uns nicht um sie gekümmert haben. Jetzt höre ich aber, daß heutzutage die Gesellschaft auf dem Land ganz verseucht von ihnen ist, etwas, was ich äußerst irreligiös finde. Weiter hat sich der älteste Sohn mit seinem Vater zerzankt, und man erzählt, daß sich Lord Brancaster immer hinter dem Finanzblatt der »Times« versteckt, wenn sie einander im Klub begegnen. Ich glaube fast, daß das heute etwas ganz Gewöhnliches ist, und daß man in allen Klubs der St. James Street dafür speziell Exemplare der »Times« hält; es gibt so viele Söhne, die ihren Vätern, und so viele Väter, die ihren Söhnen aus dem Wege gehen wollen. Ich für meinen Teil finde das sehr bedauerlich.

Mrs. Cheveley: Ich bin derselben Ansicht. Heutzutage hätten die Väter so viel von ihren Söhnen zu lernen.

Lady Markby: Wirklich, Mrs. Cheveley? Zum Beispiel?

Mrs. Cheveley: Die Kunst, zu leben. Die einzige wirklich edle Kunst, die unsere moderne Zeit gezeitigt hat.

Lady Markby kopfschüttelnd: Ich fürchte, daß Lord Brancaster diese Kunst gut genug verstanden hat, besser als seine arme Frau. Sich zu Lady Chiltern wendend: Sie kennen Lady Brancaster, nicht wahr, liebe Gertrud?

Lady Chiltern: Nur flüchtig. Sie waren letzten Herbst zur selben Zeit mit uns in Langton.

Lady Markby: Sie sieht, gleich allen starken Frauen, wie das Bild reinen Glückes aus, was Sie gewiß auch bemerkt haben werden. Aber außer dieser Geschichte mit dem Hilfsgeistlichen gibt es noch viele Tragödien in ihrer Familie. Ihre Schwester, Mrs. Jekyll, war sehr unglücklich, und zwar leider nicht durch eigenes Verschulden. Sie war schließlich so verzweifelt, daß sie in ein Kloster ging – oder war's eine Operettenbühne? – ich weiß nicht mehr, was es eigentlich war. Nein, nein, ich glaube, sie hat sich der dekorativen Kunststickerei gewidmet. Ich weiß nur das eine, daß sie jede Freude am Leben verloren hatte. Sich erhebend. Und jetzt, Gertrud, will ich mit Ihrer Erlaubnis Mrs. Cheveley unter Ihrer Obhut lassen und sie in einer Viertelstunde von hier abholen. Oder vielleicht wollen Sie lieber im Wagen warten, liebe Mrs. Cheveley, während ich bei Lady Brancaster bin. Mein Besuch wird nicht lange dauern, es ist ja ein Kondolenzbesuch.

Mrs. Cheveley aufstehend: Ich will ganz gerne im Wagen warten, wenn nur jemand da ist, der mich ansieht.

Lady Markby: Ich höre, daß der Hilfsgeistliche immer um das Haus herumstreicht.

Mrs. Cheveley: Ich fürchte, mir fehlt das faible für die Verehrer junger Mädchen.

Lady Chiltern aufstehend: Ich hoffe, daß Mrs. Cheveley ein wenig bei mir bleiben wird, ich möchte gerne ein paar Minuten mit ihr sprechen.

Mrs. Cheveley: Wie gütig, Lady Chiltern! Seien Sie überzeugt, daß nichts mir mehr Vergnügen bereiten kann.

Lady Markby: Ach, Sie beide haben sicher viele angenehme Reminiszenzen aus der Schulzeit aufzufrischen. Adieu, liebe Gertrud! Sehe ich Sie heute abend bei Lady Bonar? Sie hat ein neues großes Genie entdeckt. Es kann – gar nichts, glaube ich. Ein großer Trost, nicht wahr?

Lady Chiltern: Robert und ich speisen heute abend zu Hause, und ich glaube kaum, daß ich nachher noch ausgehen werde. Robert wird natürlich ins Parlament müssen. Aber es steht nichts Interessantes auf der Tagesordnung.

Lady Markby: Allein zu Hause speisen? Ist das vernünftig? Ach – ich vergesse, daß Ihr Gatte eine Ausnahme bildet. Mein Herr Gemahl ist gewöhnlichster Durchschnitt, und nichts macht eine Frau schneller alt, als wenn sie einen Durchschnittsmann hat. Lady Markby ab.

Mrs. Cheveley: Eine merkwürdige Frau, die Lady Markby, nicht? Spricht mehr und sagt dabei weniger als irgend jemand andrer. Sie ist zum öffentlichen Redner wie geschaffen. Viel mehr noch als ihr Gatte, obwohl er der Typus des Engländers ist, immer phlegmatisch und in der Regel brutal.

Lady Chiltern antwortet nicht, bleibt aber stehen. Stillschweigen. Dann begegnen einander die Blicke der beiden Frauen. Lady Chiltern sieht ernst und blaß aus. Mrs. Cheveley scheint in bester Laune zu sein: Mrs. Cheveley, ich glaube korrekt zu handeln, wenn ich Ihnen aufrichtig sage, daß ich Sie für gestern abend nicht geladen hätte, wenn ich gewußt hätte, wer Sie eigentlich sind.

Mrs. Cheveley mit einem frechen Lächeln: Wirklich?

Lady Chiltern: Ich hätte es nicht tun können.

Mrs. Cheveley: Ich sehe, daß Sie sich trotz der vielen Jahre nicht im geringsten verändert haben, Gertrud.

Lady Chiltern: Ich verändere mich nie.

Mrs. Cheveley die Augenbrauen hinaufziehend: So hat Sie das Leben gar nichts gelehrt?

Lady Chiltern: Es hat mich gelehrt, daß der, der einmal eine entehrende, schimpfliche Handlung begangen hat, auch fähig ist, sie ein zweites Mal zu begehen, und deshalb gemieden werden muß.

Mrs. Cheveley: Wollen Sie diese Behauptung für jedermann gelten lassen?

Lady Chiltern: Jawohl, für jedermann, ohne Ausnahme.

Mrs. Cheveley: Dann tun Sie mir leid, Gertrud, sehr leid.

Lady Chiltern: Sie werden unter diesen Umständen jetzt gewiß einsehen, daß jeder weitere Verkehr zwischen uns während Ihres Aufenthaltes in London geradezu unmöglich ist?

Mrs. Cheveley sich in den Sessel zurücklehnend: Wissen Sie, Gertrud, Ihre Moralpredigten lassen mich ganz kalt. Moral ist nichts weiter, als die Pose, die wir Leuten gegenüber einnehmen, gegen die wir eine persönliche Abneigung haben. Sie mögen mich nicht. Dessen bin ich mir vollkommen bewußt. Auch ich habe Sie immer gehaßt. Und doch bin ich hierher gekommen, um Ihnen einen Dienst zu erweisen.

Lady Chiltern verächtlich: Vermutlich einen Dienst, wie jenen, den Sie gestern meinem Mann erweisen wollten? Dem Himmel sei Dank, daß ich ihn davor bewahrt habe!

Mrs. Cheveley aufspringend: Sie also waren es, die ihn veranlaßt hat, mir diesen frechen Brief zu schreiben? Sie haben ihn dazu bestimmt, sein Versprechen zu brechen?

Lady Chiltern: Jawohl.

Mrs. Cheveley: Dann müssen auch Sie ihn dazu bestimmen, es zu halten. Ich gebe Ihnen bis morgen Zeit – nicht länger. Wenn bis zu dieser Zeit Ihr Mann sich nicht feierlich verpflichtet, mich bei dem wichtigen Projekt, bei dem ich interessiert bin, zu unterstützen –

Lady Chiltern: Sie meinen den betrügerischen Schwindel.

Mrs. Cheveley: Nennen Sie es wie Sie wollen. Ich halte das Schicksal Ihres Mannes in meiner hohlen Hand, und wenn Sie klug sind, werden Sie ihn dazu bringen, zu tun, was ich will.

Lady Chiltern steht auf und geht auf Mrs. Cheveley zu: Sie sind unverschämt. Was hat mein Gatte mit Ihnen zu tun? Mit einer Frau wie Sie?

Mrs. Cheveley mit bitterm Lachen: In dieser Welt gesellt sich eben gleiches zu gleichem. Wir passen so gut zueinander, weil Ihr Gatte selbst ein Schwindler und Betrüger ist. Zwischen Ihnen und ihm gähnen Abgründe, aber er und ich sind enger miteinander verbunden als Freunde. Wir sind Feinde, die aneinander gekettet sind. Das gleiche Verbrechen verbindet uns.

Lady Chiltern: Wie können Sie es wagen, sich und meinen Gatten auf eine Stufe zu stellen? Wie können Sie es wagen, ihn oder mich zu bedrohen? Verlassen Sie mein Haus. Sie sind nicht wert, darin zu weilen.

Sir Robert Chiltern tritt von rückwärts ein. Er hört die letzten Worte seiner Frau und sieht, an wen sie gerichtet sind. Er wird totenbleich.

Mrs. Cheveley: Ihr Haus! Ein Haus, das für den Preis der Schande gekauft wurde! Ein Haus, in dem von oben bis unten alles mit Betrug gekauft wurde! Sie dreht sich um und sieht Sir Robert Chiltern. Fragen Sie ihn, wo der Ursprung seines Vermögens liegt. Lassen Sie sich von ihm erzählen, wie er einem Spekulanten ein Staatsgeheimnis verkauft hat. Erfahren Sie von ihm, welchem Umstande Sie Ihre Stellung verdanken!

Lady Chiltern: Es ist nicht wahr! Robert! Es ist nicht wahr!

Mrs. Cheveley mit ausgestrecktem Finger auf ihn deutend: Sehen Sie ihn an! Kann er es leugnen? Kann er es wagen?

Sir Robert Chiltern: Gehen Sie! Gehen Sie sogleich. Jetzt haben Sie Ihr Schlimmstes getan.

Mrs. Cheveley: Das Schlimmste? Ich bin mit euch beiden noch nicht fertig. Ich gebe euch beiden Galgenfrist bis morgen mittag. Wenn Sie bis dahin nicht tun, was ich Ihnen zu tun befehle, so soll die ganze Welt die Geschichte von Robert Chilterns Aufstieg kennenlernen.

Sir Robert Chiltern läutet. Mason tritt ein.

Sir Robert Chiltern: Führen Sie Mrs. Cheveley hinaus. Mrs. Cheveley fährt zusammen; dann verbeugt sie sich mit übertriebener Höflichkeit vor Lady Chiltern, die kein Zeichen der Erwiderung gibt. Wie sie an Sir Robert Chiltern vorbeikommt, der knapp bei der Türe steht, hält sie einen Augenblick an und sieht ihm gerade ins Gesicht. Dann geht sie, begleitet von dem Diener, der die Türe hinter ihr schließt, hinaus. Die Ehegatten bleiben allein. Lady Chiltern steht da, wie in einem schrecklichen Traum befangen. Dann wendet sie sich um und betrachtet ihren Mann. Sie sieht ihn mit einem seltsamen Blick an, als sähe sie ihn zum erstenmal.

Lady Chiltern: Du hast ein Staatsgeheimnis für Geld verkauft! Du hast dein Leben mit Betrug begonnen! Hast deine Karriere auf Gemeinheit aufgebaut! O sage mir, daß es nicht wahr ist! Belüg mich doch! Sag' mir, daß es nicht wahr ist!

Sir Robert Chiltern: Was diese Frau gesagt hat, ist vollkommen wahr. Aber hör' mich an, Gertrud. Du weißt nicht, wie man mich in Versuchung gebracht hat. Laß dir das Ganze erzählen. Geht auf sie zu.

Lady Chiltern: Komm mir nicht nahe. Berühr' mich nicht! Mir ist, als wäre ich durch dich für immer beschmutzt. Oh, welche Maske hast du in all diesen Jahren getragen! Eine abscheuliche Heuchlermaske. Du hast dich für Geld verkauft! Oh! ein gemeiner Dieb ist besser, du aber hast dich dem Meistbietenden zum Kauf angeboten! Bist auf dem Markt gekauft worden! Du hast die ganze Welt belogen. Und doch willst du mich nicht belügen.

Sir Robert Chiltern auf sie zueilend: Gertrud! Gertrud!

Lady Chiltern ihn mit ausgestreckten Händen abwehrend: Nein, sprich nicht! Sage nichts! Deine Stimme erweckt schreckliche Erinnerungen – Erinnerungen an Dinge, die mich dich lieben machten – Erinnerungen an Worte, die meine Liebe zu dir erweckten – Erinnerungen, die mir jetzt furchtbar sind. Und wie hab' ich dich angebetet! Du warst für mich etwas, was nicht war, wie das gewöhnliche Leben, etwas Reines, Nobles, Ehrliches, Makelloses. Die Welt schien mir verschönt, weil du darin wohntest, und Güte etwas Wahres, weil du lebtest. Und jetzt – oh, wenn ich daran denke, daß ein Mann wie du mein Ideal, das Ideal meines Lebens gewesen ist!

Sir Robert Chiltern: Das war eben dein Fehler, dein Irrtum. Der Irrtum, den alle Frauen begehen. Warum könnt ihr Frauen uns nicht mit allen unseren Fehlern lieben? Warum stellt ihr uns auf ein erhabenes Piedestal? Wir alle stehen auf tönernen Füßen, Frauen sowohl wie Männer; aber wenn wir Männer die Frauen lieben, so lieben wir sie mit ihren Schwächen, ihren Fehlern, ihren Unvollkommenheiten, lieben sie vielleicht deshalb um so mehr. Nicht die Vollkommenen, sondern die Unvollkommenen sind es, die Liebe brauchen. Wenn uns die eigene Hand oder die Hand der andern Wunden schlägt, dann sollte Liebe kommen, uns zu heilen – wozu gäbe es sonst Liebe? Liebe sollte alle Sünden vergeben, nur nicht die Sünde gegen die Liebe selbst. Allen, außer liebelosen Wesen, sollte die Liebe Verzeihung gewähren. So denkt die Liebe des Mannes. Sie ist umfassender, größer, menschlicher als die Liebe der Frau. Die Frauen glauben, die Männer zu Idealen machen zu müssen. In Wirklichkeit machen sie uns zu trügerischen Götzenbildern. Du hast mich zu deinem Ideal gemacht, und ich habe nicht den Mut gehabt, herabzusteigen, dir meine Wunden zu entblößen, meine Schwächen zu zeigen, aus Furcht, deine Liebe zu verlieren, so wie ich sie jetzt verloren habe. Gestern abend hast du mein Leben zerstört – jawohl, zerstört! Was diese Frau von mir verlangt hat, war nichts im Vergleich zu dem, was sie mir bot. Sie hat mir Sicherheit, Frieden, Seelenruhe geboten. Die Sünde meiner Jugend, die ich begraben glaubte, stieg abscheulich, schrecklich, vor mir auf, grub sich mit ihren Händen in meinen Hals. Ich hätte sie für immer töten, hätte sie ins Grab zurückverweisen, die Erinnerung daran zerstören, den einzigen Beweis, der gegen mich vorlag, zu Asche machen können. Du hast mich daran gehindert. Nur du, du weißt es. Und was ist jetzt mein Schicksal, als öffentliche Schande, Ruin, entsetzlicher Skandal, der Hohn der Welt, ein einsames ehrloses Leben, vielleicht auch eines Tags ein einsamer, ehrloser Tod. Oh, möchten doch die Frauen die Männer nicht zu Idealen machen, sie nicht auf Altäre stellen und sich vor ihnen neigen, damit sie nicht noch andere Existenzen so durch und durch vernichten, wie du – du, die ich so heiß geliebt – mein Leben zerstört hast!

Er geht aus dem Zimmer. Lady Chiltern eilt auf ihn zu, aber die Tür fällt ins Schloß, bevor sie sie erreicht. Blaß vor Angst, Schrecken und Schwäche zittert sie wie eine Blume im Wasser. Ihre ausgestreckten Hände scheinen wie Blüten im Wind zu schwanken. Dann wirft sie sich auf das Sofa und verbirgt ihr Gesicht. Ihr Schluchzen erinnert an das Weinen eines Kindes.

Dritter Akt

Lord Gorings Bibliothekszimmer. Meublement im Stile Adams. Rechts eine Tür zur Halle, links zum Rauchzimmer. Eine Flügeltür im Hintergrund führt in den Salon. Im Kamin brennt Feuer. Phipps, der Haushofmeister, legt einige Zeitungen auf dem Schreibtisch zurecht. Phipps' Charakteristikum ist seine unerschütterliche Ruhe. Enthusiastische Beurteiler nennen ihn den idealen Haushofmeister. Die Sphinx ist weniger geheimnisvoll. Marionettenhafte Ruhe in seinem Benehmen. Die Historie weiß von seinem innern Seelenleben nichts zu berichten. Phipps ist eine Verkörperung der äußeren Form.

Lord Goring tritt ein. Frack, Blume im Knopfloch, Zylinder, Inverneßmantel, weiße Handschuhe, Stock Louis XVI. Der Lord läßt keine Narretei der eleganten Mode aus. Man merkt an ihm, daß er mitten im fashionablen Leben schwimmt und den Ton angibt. Er ist der erste gut gekleidete Denker in der Geschichte der Philosophie.

Lord Goring: Haben Sie eine andere Blume für mein Knopfloch, Phipps?

Phipps: Sehr wohl, Mylord. Nimmt Hut, Stock und Mantel und reicht auf einem Tablett eine frische Knopflochblume.

Lord Goring: Höchst merkwürdige Sache das, Phipps. Bin jetzt der einzige unbedeutende Mensch in London, der eine Blume im Knopfloch trägt.

Phipps: Sehr wohl, Mylord, ich habe es bemerkt.

Lord Goring nimmt die alte Blume aus dem Knopfloch: Verstehen Sie, Phipps, Mode ist nur das, was man selbst trägt. Was andere tragen, ist nicht modern.

Phipps: Sehr wohl, Mylord.

Lord Goring: So wie das Benehmen der anderen stets Unkultur ist.

Phipps: Sehr wohl, Mylord!

Lord Goring die frische Blume ins Knopfloch steckend: Und Lüge das, was andere Wahrheit nennen.

Phipps: Sehr wohl, Mylord.

Lord Goring: Die anderen sind überhaupt schauderhaft. Die einzige Gesellschaft, in der man es aushalten kann, ist man selbst.

Phipps: Sehr wohl, Mylord!

Lord Goring: Wenn man in sich selbst vernarrt ist, so ist das der Anfang zu einem Roman, Phipps, der das ganze Leben lang dauert.

Phipps: Sehr wohl, Mylord!

Lord Goring sich im Spiegel betrachtend: Diese Blume gefällt mir nicht besonders, Phipps. Macht mich ein bißchen zu alt. Fast schon zum Jüngling, he, Phipps?

Phipps: Ich bemerke keine Veränderung in Eurer Lordschaft Aussehen.

Lord Goring: Wirklich nicht, Phipps?

Phipps: Nein, Mylord!

Lord Goring: Ich bin meiner Sache nicht ganz sicher. In Zukunft eine trivialere Blume für Donnerstag abend, Phipps!

Phipps: Ich werde der Blumenhändlerin Auftrag geben, Mylord. In ihrer Familie war kürzlich ein Todesfall; vielleicht rührt daher das Auffallende der Blume, das Eure Lordschaft tadelt.

Lord Goring: Merkwürdige Sache um die unteren Klassen in England – ununterbrochen stirbt einer aus der Verwandtschaft.

Phipps: Sehr wohl, Mylord! In dieser Beziehung geht es ihnen außergewöhnlich gut.

Lord Goring dreht sich um und schaut ihn an. Phipps zuckt mit keiner Muskel: Hm! Sind Briefe da, Phipps?

Phipps: Drei, Mylord. Reicht auf einem Tablett die Briefe.

Lord Goring nimmt die Briefe: Mein Wagen soll in zwanzig Minuten da sein.

Phipps: Sehr wohl, Mylord. Geht zur Tür.

Lord Goring einen Brief mit einem rosa Umschlag betrachtend: Hm! Phipps, wann ist dieser Brief gekommen?

Phipps: Er ist sofort, nachdem Eure Lordschaft in den Klub gefahren war, abgegeben worden.

Lord Goring: Es ist gut. Phipps ab. Lady Chilterns Schrift auf Lady Chilterns rosa Briefpapier. Sehr merkwürdig. Ich dachte, Robert würde schreiben. Was kann mir Lady Chiltern zu sagen haben? Setzt sich an den Schreibtisch, öffnet den Brief und liest darin. Gertrud muß mich sprechen … vertraut mir … wird zu mir kommen …? Legt den Brief mit verwirrter Miene nieder, nimmt ihn wieder auf und liest ihn langsam noch einmal. Sie muß mich sprechen … vertraut mir … wird zu mir kommen …? So hat sie alles entdeckt. Arme Frau! Arme Frau! Zieht die Uhr heraus und sieht nach. Welche Stunde für einen Besuch! Zehn Uhr! Ich werde Berkshires sein lassen müssen. Immerhin angenehmer, erwartet zu werden und nicht zu kommen. Im Junggesellenklub erwarten sie mich nicht, ergo will ich hingehen. Ich will ihr zureden, ihrem Mann beizustehen. Das einzige, was sie tun kann, die einzige Pflicht jeder Frau. Nur die gesteigerte Sensibilität des moralischen Empfindens der Frau ist schuld daran, wenn die Ehe eine so hoffnungslos einseitige Institution wird. Zehn Uhr. Sie muß bald hier sein. Ich muß Phipps sagen, daß ich für niemand anders zu Hause bin. Geht zur Glocke.

Phipps tritt ein.

Phipps: Lord Caversham.

Lord Goring: Ich möchte nur wissen, warum Eltern immer gerade im unrechten Augenblick kommen müssen? Wahrscheinlich ein spezieller Geburtsfehler. Lord Caversham tritt ein. Entzückt, dich zu sehen, lieber Papa. Geht ihm entgegen.

Lord Caversham: Nimm mir den Rock ab.

Lord Goring: Ist es der Mühe wert, Papa?

Lord Caversham: Gewiß. Wo ist der bequemste Stuhl?

Lord Goring: Der hier, Papa. Es ist der Sessel, den ich selbst okkupiere, wenn Besuch bei mir ist.

Lord Caversham: Ich danke. Es zieht hier hoffentlich nicht?

Lord Goring: Nein, Papa.

Lord Caversham Platz nehmend: Freut mich, zu hören. Kann Zug nicht vertragen. Bei mir zu Hause ist nie Zug.

Lord Goring: Aber oft recht kühles Wetter.

Lord Caversham: Eh? Eh? Verstehe nicht, was du meinst. Habe ernstlich mit dir zu sprechen.

Lord Goring: Lieber Papa! Jetzt?

Lord Caversham: Es ist erst zehn Uhr. Was hast du gegen diese Stunde einzuwenden? Ich finde, es ist eine ausgezeichnete Stunde!

Lord Goring: Ja, Papa, die Sache ist aber die, daß heute für mich nicht der Tag für seriöse Unterhaltung ist. Tut mir aufrichtig leid, aber es ist nicht der richtige Tag.

Lord Caversham: Was meinst du damit?

Lord Goring: Während der Saison bin ich nur jeden ersten Dienstag des Monats von vier bis sieben für seriöse Dinge zu sprechen, Papa.

Lord Caversham: Dann laß heute Dienstag sein.

Lord Goring: Es ist aber schon sieben Uhr vorbei, Papa, und mein Arzt sagt, daß ich nach sieben Uhr keine seriöse Konversation mehr führen darf. Ich spreche sonst im Schlaf.

Lord Caversham: Du sprichst im Schlaf? Macht nichts, bist ja nicht verheiratet.

Lord Goring: Nein, Papa, verheiratet bin ich nicht.

Lord Caversham: Hm! Das ist es gerade, worüber ich mit dir zu sprechen habe. Du sollst heiraten, und zwar baldigst. In deinem Alter war ich schon drei Monate lang untröstlicher Witwer und machte bereits deiner reizenden Mama den Hof. Zum Kuckuck, es ist deine Pflicht, zu heiraten. Du kannst nicht immer dem Vergnügen leben. Heutzutage ist jeder Mann von Stellung verheiratet. Junggesellen werden unmodern. Sie sind eine gottverlassene Gesellschaft. Man kennt sie schon zu gut. Du mußt eine Frau haben. Schau, wie weit es dein Freund Robert Chiltern durch honettes Wesen, ernstes Arbeiten und eine raisonable Heirat mit einer ordentlichen Frau gebracht hat. Warum ahmst du ihm nicht nach? Warum nimmst du dir ihn nicht zum Vorbild?

Lord Goring: Ich glaube, ich werde es schon tun, Papa.

Lord Caversham: Ich wollte, du tätest es. Dann wäre ich glücklich. Jetzt verbittere ich nur deiner armen Mutter das Leben mit dir. Du bist gefühllos, total gefühllos.

Lord Goring: Ich hoffe nicht, Papa.

Lord Caversham: Und es ist die höchste Zeit für dich, zu heiraten. Du bist vierunddreißig Jahre alt.

Lord Goring: Ja, Papa, aber ich gebe nur zweiunddreißig zu – wenn ich die richtige Blume im Knopfloch habe, nur einunddreißig. Meine Blume ist heute nicht trivial genug.

Lord Caversham: Ich sage dir, daß du vierunddreißig Jahr alt bist. Und im übrigen zieht es hier im Zimmer, was dein Benehmen nur noch schlimmer macht. Warum hast du behauptet, daß es nicht zieht? Ich spüre den Zug, ich spüre ihn ganz deutlich.

Lord Goring: Ich auch, Papa, es zieht schrecklich. Ich komme morgen zu dir, Papa. Wir können dann über alles sprechen, was dir genehm ist. Laß mich dir in deinen Rock helfen, Papa.

Lord Caversham: Nein, ich bin heute mit einer bestimmten Absicht hergekommen, und werde sie ausführen, mag es auch meiner oder deiner Gesundheit schaden. Lege meinen Rock wieder hin.

Lord Goring: Gerne, Papa. Aber gehen wir in ein anderes Zimmer. Läutet. Hier ist gräßlicher Zug. Phipps tritt ein. Phipps, ist im Rauchzimmer gut geheizt?

Phipps: Sehr wohl, Mylord.

Lord Goring: Komm da hinein, Papa. Dein Niesen schneidet mir ins Herz.

Lord Caversham: Ich werde doch hoffentlich noch das Recht haben, zu niesen, wann es mir beliebt?

Lord Goring entschuldigend: Gewiß, Papa. Ich wollte dir nur mein Mitgefühl ausdrücken.

Lord Caversham: Zum Satan mit deinem Mitgefühl. Heutzutage treibt man es schon zu arg damit.

Lord Goring: Ich bin ganz deiner Meinung, Papa. Gäbe es weniger Mitgefühl, so gäbe es auch weniger Elend auf der Welt.

Lord Caversham ins Rauchzimmer gehend: Das ist ein Paradox, ich bin ein Feind von Paradoxen.

Lord Goring: Ich genau so, Papa. Jeder Mensch, den man heutzutage trifft, ist ein Paradoxon. Sehr langweilig. Es macht die Leute so sonnenklar.

Lord Caversham wendet sich um und sieht seinen Sohn, die buschigen Brauen zusammenziehend, an: Verstehst du auch immer selbst, was du sagst?

Lord Goring nach kurzem Zögern: Ja, Papa, wenn ich genau zuhöre.

Lord Caversham indigniert: Wenn du genau zuhörst! Überspannter Narr! Geht brummend ins Rauchzimmer. Phipps tritt ein.

Lord Goring: Phipps, heute abend wird eine Dame kommen, die mich in einer Angelegenheit zu sprechen wünscht. Führen Sie sie in den Salon, wenn sie kommt. Verstanden?

Phipps: Sehr wohl, Mylord.

Lord Goring: Es handelt sich um eine besonders wichtige Angelegenheit, Phipps.

Phipps: Ich verstehe, Mylord.

Lord Goring: Unter keiner Bedingung darf jemand anders vorgelassen werden.

Phipps: Ich verstehe, Mylord. Es läutet.

Lord Goring: Ah, das ist wahrscheinlich die Dame. Ich will sie selbst empfangen. Gerade wie er zur Türe geht, kommt Lord Caversham aus dem Herrenzimmer herein.

Lord Caversham: Nun, soll ich etwa auf dich warten?

Lord Goring sichtlich verlegen: Entschuldige mich einen Moment, Papa. Lord Caversham geht zurück. Also, merken Sie sich meinen Auftrag gut, Phipps –in dieses Zimmer.

Phipps: Sehr wohl, Mylord. Lord Goring geht ins Rauchzimmer. Harold, der Diener, führt Mrs. Cheveley herein. Sie trägt eine Phantasie von Grün und Silber. Mantel aus schwarzem Atlas mit Seidenfutter in der Farbe welker Rosenblätter.

Harold: Wen darf ich melden, Madame?

Mrs. Cheveley zu Phipps, der auf sie zukommt: Ist Lord Goring nicht hier? Man hat mir gesagt, daß er zu Hause ist.

Phipps: Seine Lordschaft spricht momentan mit Lord Caversham, Madame. Wirft Harold einen kalten, glasigen Blick zu, worauf sich Harold sogleich zurückzieht.

Mrs. Cheveley für sich: Der gute Sohn!

Phipps: Seine Lordschaft hat mir Auftrag gegeben, Madame zu bitten, freundlichst im Salon auf ihn zu warten. Seine Lordschaft wird sofort kommen.

Mrs. Cheveley verwundert: Lord Goring erwartet mich?

Phipps: Jawohl, gnädige Frau.

Mrs. Cheveley: Wissen Sie das sicher?

Phipps: Seine Lordschaft hat mir aufgetragen, wenn eine Dame kommt, sie zu ersuchen, im Salon auf ihn zu warten. Geht zur Salontüre und öffnet sie. Die Befehle seiner Lordschaft waren sehr präzise.

Mrs. Cheveley für sich: Wie zartfühlend! Das Unerwartete erwarten – ein Beweis für einen durchaus kultivierten Verstand. Geht zur Salontür und schaut hinein. Uff! Wie unfreundlich Salons in Junggesellenwohnungen immer aussehen. Das werde ich alles ändern müssen. Phipps bringt die Lampe vom Schreibtisch. Nein, ich brauche diese Lampe nicht. Sie leuchtet viel zu hell. Zünden Sie einige Kerzen an.

Phipps stellt die Lampe zurück: Bitte, Madame.

Mrs. Cheveley: Ich hoffe, daß die Kerzen Schirme haben, die das Licht vorteilhaft dämpfen.

Phipps: Es sind bisher keine Klagen unterlaufen, Madame. Geht in den Salon und fängt an, die Kerzen anzuzünden.

Mrs. Cheveley für sich: Ich möchte wissen, wer die Frau ist, die er heute abend erwartet. Es wird köstlich sein, ihn zu ertappen. Die Männer schauen immer so albern aus, wenn sie ertappt werden. Und sie lassen sich immer ertappen. Sieht sich im Zimmer um und nähert sich dem Schreibtisch. Wie interessant das Zimmer ist! Ein interessantes Bild! Ich möchte seine Korrespondenz sehen. Stöbert in den Briefen herum. Eine uninteressante Korrespondenz! Zettel und Visitenkarten, Rechnungen und Parten. Wer mag ihm nur auf rosa Briefpapier schreiben? Zu läppisch, auf rosa Papier zu schreiben. So beginnen gewöhnlich Romane aus den bürgerlichen Klassen. Romane sollten nie mit Gefühlsergüssen beginnen, ihr Anfang sollte Logik, ihr Ende die Ehe sein. Legt den Brief nieder, hebt ihn aber wieder auf. Ich kenne diese Schrift. Es ist Gertrud Chilterns Schrift. Ich erinnere mich genau daran. In jedem Federstrich die zehn Gebote, Moral über die ganze Seite. Was mag ihm Gertrud nur schreiben? Gewiß irgend etwas Niederträchtiges über mich. Wie ich dieses Weib hasse! Liest. Sie muß ihn sprechen … vertraut ihm … will zu ihm kommen …! Langsam wiederholend. Sie muß ihn sprechen … vertraut ihm … will zu ihm kommen … Ihre Augen leuchten triumphierend auf. Im Moment, wo sie den Brief entwenden will, kommt Phipps herein. .

Phipps: Die Kerzen brennen im Salon, wie Madame gewünscht haben.

Mrs. Cheveley: Danke. Erhebt sich hastig und steckt den Brief unter eine große, mit Silber montierte Schreibmappe, die auf dem Tische liegt.

Phipps: Ich glaube, daß die Schirme Madames Geschmack entsprechen werden; es sind die besten, die wir haben. Seine Lordschaft verwendet die gleichen, wenn er zum Diner Toilette macht.

Mrs. Cheveley lächelnd: Dann werden es gewiß die richtigen sein.

Phipps ernst: Danke, Madame. Mrs. Cheveley geht in den Salon. Phipps schließt die Türe und zieht sich zurück. Dann wird die Türe leise wieder geöffnet, und Mrs. Cheveley schleicht langsam auf den Schreibtisch zu. Plötzlich hört man Stimmen aus dem Rauchzimmer. Mrs. Cheveley erbleicht und bleibt stehen. Die Stimmen werden lauter, sie geht, sich die Lippen beißend, in den Salon zurück. Lord Goring und Lord Caversham treten ein.

Lord Goring in dezidiertem Tone: Mein lieber Papa, wenn ich heiraten soll, so wirst du mir wohl gestatten, Zeit, Ort und Person selbst zu bestimmen? Besonders die Person.

Lord Caversham eigensinnig: Das ist meine Sache, du würdest wahrscheinlich eine sehr schlechte Wahl treffen. Ich muß zu Rat gezogen werden, nicht du. Vorerst handelt es sich um Geld und Geldeswert, nicht um Zuneigung. Zuneigung kommt dann schon später in der Ehe.

Lord Goring: Jawohl, Zuneigung kommt in der Ehe dann, wenn die Leute einander gründlich satt haben, nicht wahr, Papa? Hilft Lord Caversham, den Rock anzuziehen.

Lord Caversham: Gewiß. Gewiß nicht, will ich sagen. Du sprichst heute lauter Unsinn. Was ich sagen will, ist, daß die Ehe eine Sache der Vernunft ist.

Lord Goring: Aber vernünftige Frauen sind so besonders häßlich, findest du nicht, Papa? Ich spreche natürlich nur vom Hörensagen.

Lord Caversham: Alle Frauen zusammen, ob hübsch oder häßlich, besitzen überhaupt keine Vernunft. Vernunft ist das Privileg unseres Geschlechtes.

Lord Goring: Ganz richtig. Und wir Männer sind so altruistisch, nie Gebrauch davon zu machen, nicht wahr, Papa?

Lord Caversham: Ich immer, ohne Ausnahme.

Lord Goring: Das hörte ich auch Mama sagen.

Lord Caversham: Darin liegt auch das Geheimnis, warum deine Mutter so glücklich ist. Du bist gefühllos, total gefühllos.

Lord Goring: Hoffentlich nicht, Papa. Verläßt mit Lord Caversham das Zimmer und kommt dann, ziemlich verstimmt aussehend, mit Sir Robert Chiltern wieder zurück.

Sir Robert Chiltern: Welch glücklicher Zufall, lieber Artur, dich gerade auf der Schwelle zu finden! Dein Diener hat mir eben gesagt, du wärest nicht zu Hause. Wie merkwürdig!

Lord Goring: Die Sache ist die, daß ich heute abend furchtbar beschäftigt bin, Robert, und deshalb Auftrag gegeben habe, niemand vorzulassen. Sogar meinen Papa habe ich verhältnismäßig kühl aufgenommen. Er hat auch die ganze Zeit über Zug geklagt.

Sir Robert Chiltern: Oh, für mich mußt du zu Hause sein, Artur. Du bist mein bester Freund, morgen vielleicht sogar mein einziger. Meine Frau weiß alles.

Lord Goring: Das habe ich gleich erraten.

Sir Robert Chiltern ihn ansehend: Wirklich? Woraus?

Lord Goring nach kurzem Zögern: Oh, bloß aus einem Zuge in deinem Gesichte, wie du hereinkamst. Wer hat es ihr gesagt?

Sir Robert Chiltern: Mrs. Cheveley selbst. Und jetzt weiß die Frau, die ich liebe, daß ich meine Karriere mit einer Schurkerei begonnen, daß ich mein Leben auf eine Sandbank der Schande aufgebaut – daß ich wie ein gemeiner Lump das Geheimnis verkauft habe, das man mir als Ehrenmanne anvertraute. Ich danke dem Himmel, daß der arme Lord Radley gestorben ist, ohne zu wissen, daß ich ihn verraten habe. Wollte Gott, ich wäre selbst gestorben, bevor ich in diese schreckliche Versuchung geraten, ehe ich so tief gefallen war. Verdeckt sein Gesicht mit den Händen.

Lord Goring nach einer Pause: Ist aus Wien noch keine Antwort auf dein Telegramm da?

Sir Robert Chiltern aufschauend: Ja, ich erhielt heute abend um acht Uhr ein Telegramm vom ersten Sekretär.

Lord Goring: Nun?

Sir Robert Chiltern: Es ist absolut nichts bekannt, was gegen sie spräche. Im Gegenteil, sie nimmt eine ziemlich hervorragende Position in der Gesellschaft ein. Eine Art offenen Geheimnisses ist es, daß ihr Baron Arnheim den größten Teil seines enormen Vermögens hinterlassen hat. Sonst konnte ich nichts in Erfahrung bringen.

Lord Goring: So hat sie sich nicht als Spion entpuppt?

Sir Robert Chiltern: Ach, Spione haben heutzutage keinen Wert. Ihre Zeit ist um. An ihrer Statt arbeiten die Zeitungen.

Lord Goring: Und noch dazu verteufelt gut.

Sir Robert Chiltern: Artur, ich verschmachte vor Durst. Kann ich etwas zu trinken haben, vielleicht ein wenig Wein mit Sodawasser?

Lord Goring: Gewiß, ich werde sofort lauten. Läutet.

Sir Robert Chiltern: Danke! Ich weiß nicht, was ich tun soll, Artur, ich weiß nicht, was ich tun soll. Du bist mein einziger Freund. Und was für ein Freund – der einzige, dem ich vertrauen kann. Ich kann dir doch unbedingt vertrauen, nicht wahr? Phipps tritt ein.

Lord Goring: Gewiß, Robert. Zu Phipps: Bringen Sie Rheinwein und Sodawasser.

Phipps: Sehr wohl, Mylord.

Lord Goring: Und noch eins, Phipps!

Phipps: Sehr wohl, Mylord.

Lord Goring: Entschuldige mich einen Augenblick, Robert. Ich will meinem Diener nur einige Aufträge geben.

Sir Robert Chiltern: Aber bitte.

Lord Goring: Wenn die Dame kommt, so sagen Sie ihr, daß man mich heute abend nicht zu Hause erwartet. Sagen Sie ihr, daß ich plötzlich abreisen mußte. Verstanden?

Phipps: Die Dame ist dort im Zimmer, Mylord. Mylord befahl mir, sie ins Zimmer zu führen.

Lord Goring: Es war ganz in Ordnung. Phipps ab. Jetzt sitze ich schön in der Patsche. Ich werde mich aber schon herauswinden, werde ihr durch die Türe eine Lektion erteilen. Die Sache ist aber nicht leicht.

Sir Robert Chiltern: Artur, sag' mir, was ich tun soll. Mein Leben scheint unter mir zusammenzusinken. Ich bin ein Schiff, dem in sternenloser Nacht das Steuer fehlt.

Lord Goring: Robert, du liebst deine Frau, nicht wahr?

Sir Robert Chiltern: Ich liebe sie mehr als irgend etwas auf der Welt. Ich glaubte, daß Ehrgeiz das Höchste wäre, er ist es aber nicht. Liebe ist das Höchste in der Welt. Nichts gleicht der Liebe, und ich liebe Gertrud. Aber in ihren Augen bin ich entehrt, unwürdig, eine tiefe Kluft liegt jetzt zwischen uns. Sie hat entdeckt, was ich bin, Artur, sie hat es entdeckt.

Lord Goring: Hat denn sie im Leben keine Torheit begangen – keine Unbesonnenheit – daß sie dir die Sünde nicht vergeben könnte?

Sir Robert Chiltern: Meine Frau? Niemals! Sie weiß nicht, was Schwachheit oder Versuchung ist. Ich bin nur von dieser Welt, wie alle anderen Männer. Sie aber steht über dieser Welt, wie alle edeln Frauen – erbarmungslos in ihrer Vollkommenheit – kalt und streng und ohne Mitleid. Aber ich liebe sie, Artur. Wir sind kinderlos, und ich habe niemand sonst, den ich lieben, niemand, der mich lieben könnte. Vielleicht wäre sie nachsichtiger gegen mich gewesen, wenn uns Gott Kinder geschenkt hätte, aber Gott hat unser Haus einsam gelassen. Sie hat mir das Herz zerrissen. Laß uns lieber nicht mehr davon sprechen. Ich war heute abend brutal gegen sie. Vielleicht sind Sünder immer roh, wenn sie mit Heiligen sprechen. Ich habe ihr in rücksichtslosester Weise die Wahrheit gesagt, die Wahrheit von meinem Standpunkte aus, vom Standpunkte der Männer. Sprechen wir lieber nicht mehr davon.

Lord Goring: Deine Frau wird dir verzeihen. Vielleicht verzeiht sie dir in diesem Augenblick. Sie liebt dich ja, Robert. Warum sollte sie dir nicht verzeihen?

Sir Robert Chiltern: Gott gebe es! Gott gebe es! Bedeckt sein Gesicht mit den Händen. Aber ich habe dir noch etwas zu sagen, Artur. Phipps kommt mit den Getränken.

Phipps zu Sir Robert Chiltern: Rheinwein und Sodawasser, Sir.

Sir Robert Chiltern: Danke.

Lord Goring: Ist dein Wagen hier, Robert?

Sir Robert Chiltern: Nein, ich bin zu Fuß vom Klub gekommen.

Lord Goring: Sir Robert wird meinen Wagen nehmen, Phipps.

Phipps: Sehr wohl, Mylord. Ab.

Lord Goring: Robert, du bist nicht böse, wenn ich dich jetzt fortschicke?

Sir Robert Chiltern: Du mußt mich noch fünf Minuten hier lassen, Artur. Ich habe schon einen Entschluß gefaßt, was ich heute im Parlament tun will. Die Debatte über die Argentinische Angelegenheit beginnt um elf Uhr. Im Salon fällt ein Sessel um. Was war das?

Lord Goring: Nichts.

Sir Robert Chiltern: Ich habe im Nebenzimmer einen Sessel fallen hören. Es hat jemand gehorcht.

Lord Goring: Nein, nein; es ist niemand drin.

Sir Robert Chiltern: O ja! Das Zimmer ist beleuchtet und die Türe offen. Jemand hat gehorcht, wie ich die tiefsten Geheimnisse meines Lebens verraten habe. Artur, was soll das heißen?

Lord Goring: Du bist nervös und aufgeregt, Robert. Ich wiederhole dir, daß niemand im Zimmer dort ist. Nimm Platz, Robert.

Sir Robert Chiltern: Gibst du mir dein Wort, daß niemand drin ist?

Lord Goring: Jawohl.

Sir Robert Chiltern: Dein Ehrenwort? Setzt sich.

Lord Goring: Jawohl.

Sir Robert Chiltern steht auf: Laß mich selbst nachschauen, Artur.

Lord Goring: Nein, nein.

Sir Robert Chiltern: Warum sollte ich nicht in jenes Zimmer blicken, wenn niemand darin ist? Du mußt mich in das Zimmer lassen, damit ich darüber beruhigt bin. Ich muß wissen, daß kein Horcher das Geheimnis meines Lebens erlauscht hat. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich durchmache, Artur.

Lord Goring: Das muß ein Ende nehmen, Robert. Ich habe dir gesagt, daß niemand dort im Zimmer ist – das genügt wohl.

Sir Robert Chiltern eilt zur Salontüre: Nein, es genügt nicht. Ich bestehe darauf, in das Zimmer zu gehen. Du hast mir gesagt, daß niemand darin ist, welchen Grund also kannst du haben, mir es zu verweigern?

Lord Goring: Um Himmels willen, geh' nicht hinein. Es ist jemand drin, den du nicht sehen darfst.

Sir Robert Chiltern: Oh, ich hab's gewußt.

Lord Goring: Ich verbiete dir, das Zimmer zu betreten.

Sir Robert Chiltern: Zurück! Mein Leben steht auf dem Spiel, jetzt ist es mir gleich, wer drin ist. Ich will wissen, wem ich das Geheimnis meiner Schande verraten habe. Eilt hinein.

Lord Goring: O Gott! Seine eigne Frau. Sir Robert Chiltern kommt mit verächtlichem und finsterem Gesicht zurück.

Sir Robert Chiltern: Wie kannst du mir die Anwesenheit dieser Frau erklären?

Lord Goring: Ich schwöre dir bei meiner Ehre, Robert, daß diese Frau makellos und unschuldig an allen deinen Kränkungen ist.

Sir Robert Chiltern: Sie ist ein gemeines, schamloses Weib!

Lord Goring: Sprich nicht so, Robert! Für dich ist sie hierhergekommen, sie ist gekommen, um dich zu retten. Sie liebt dich und niemand anderen.

Sir Robert Chiltern: Du bist wohl verrückt. Was gehen mich eure Intrigen an? Sie soll nur deine Mätresse bleiben, ihr paßt gut zueinander. Sie, korrupt und verkommen – du falsch als Freund, mehr als das, ein hinterhältiger Feind –.

Lord Goring: Das ist nicht wahr, Robert, beim Himmel, das ist nicht wahr. Ich will alles in eurer beider Gegenwart aufklären.

Sir Robert Chiltern: Lassen Sie mich gehen, Sir. Sie haben Ihr Ehrenwort genügend gebrochen.

Sir Robert Chiltern stürzt hinaus. Lord Goring eilt zur Salontüre, aus der Mrs. Cheveley soeben strahlend und höchlichst amüsiert heraustritt.

Mrs. Cheveley mit höhnischer Verbeugung: Guten Abend, Lord Goring!

Lord Goring: Mrs. Cheveley! Großer Gott! … Darf ich fragen, was Sie in meinem Salon getan haben?

Mrs. Cheveley: Bloß gehorcht. Ich horche für mein Leben gerne an Schlüssellöchern, man kann da immer die merkwürdigsten Dinge hören.

Lord Goring: Heißt das nicht mit der Vorsehung spielen?

Mrs. Cheveley: Ja, aber heute hat die Vorsehung das Spiel gewonnen. Winkt ihm, ihr den Mantel abzunehmen; er gehorcht.

Lord Goring: Sehr erfreut über Ihr Kommen. Ich will Ihnen einen guten Rat geben.

Mrs. Cheveley: Oh, ich bitte, tun Sie es nicht. Man soll einer Frau nie etwas geben, was sie am Abend nicht tragen kann.

Lord Goring: Ich sehe, Sie sind noch immer so eigensinnig wie früher.

Mrs. Cheveley: Noch viel mehr! Ich habe darin große Fortschritte gemacht, seitdem ich mehr Erfahrungen besitze.

Lord Goring: Zu viel Erfahrung ist auch gefährlich. Bitte nehmen Sie eine Zigarette. Die Hälfte hübscher Frauen Londons raucht Zigaretten, ich für meine Person ziehe allerdings die andere Hälfte vor.

Mrs. Cheveley: Danke, ich rauche nie. Meine Schneiderin wäre nicht entzückt davon; und die erste Pflicht im Leben einer Frau ist, ihrer Schneiderin zu gehorchen, nicht wahr? Worin die zweite Pflicht besteht, hat bisher noch niemand herausgefunden.

Lord Goring: Sie sind also gekommen, um mir Robert Chilterns Brief zu verkaufen, nicht wahr?

Mrs. Cheveley: Um Ihnen den Brief unter gewissen Bedingungen zu offerieren. Wieso haben Sie das erraten können?

Lord Goring: Weil Sie die Sache nicht erwähnt haben. Haben Sie den Brief bei sich?

Mrs. Cheveley Platz nehmend: O nein! Ein Kleid aus guter Hand hat keine Taschen.

Lord Goring: Wieviel verlangen Sie?

Mrs. Cheveley: Was für ein schrecklicher Engländer Sie sind! Die Engländer glauben immer, ein Scheckbuch könne jedes Problem im Leben lösen. Mein lieber Artur, ich habe viel mehr Geld als Sie, und vielleicht genau so viel wie Robert Chiltern. Geld ist's also nicht, was ich will.

Lord Goring: Was wollen Sie also, Mrs. Cheveley?

Mrs. Cheveley: Warum nennen Sie mich nicht Laura?

Lord Goring: Mir mißfällt der Name.

Mrs. Cheveley: Sie waren einst vernarrt in ihn.

Lord Goring: Eben darum. Mrs. Cheveley winkt ihm, sich neben sie zu setzen; er gehorcht lächelnd.

Mrs. Cheveley: Artur, Sie haben mich einst geliebt.

Lord Goring: Jawohl.

Mrs. Cheveley: Und wollten mich zu Ihrer Gattin machen.

Lord Goring: In natürlicher Konsequenz meiner Liebe.

Mrs. Cheveley: Und Sie haben mir den Laufpaß gegeben, weil Sie bemerkten oder wenigstens zu bemerken glaubten, daß der arme, alte Lord Mortlake Anstalten traf, im Wintergarten in Tenby sich mit mir des nähern einzulassen.

Lord Goring: Ich erinnere mich dunkel, daß mein Anwalt die Sache mit Ihnen unter gewissen Bedingungen, die Sie selbst stellten, geregelt hat.

Mrs. Cheveley: Zu jener Zeit war ich arm, und Sie waren reich.

Lord Goring: Stimmt. Deshalb spielten Sie mir auch die Komödie Ihrer Liebe vor.

Mrs. Cheveley achselzuckend: Der arme, alte Lord Mortlake, er hatte nur zwei Themen, seine Gicht und seine Frau! Ich konnte nie ordentlich unterscheiden, wovon er gerade sprach. Er gebrauchte für beides die schrecklichsten Ausdrücke. Nun, Artur, Sie waren töricht. Lord Mortlake war für mich nie etwas anderes als ein Amüsement, eines der schrecklich langweiligen Amüsements, die man nur an einem echt englischen Sonntag auf einem echt englischen Landsitz finden kann. Ich glaube, daß man weder Mann noch Weib moralisch dafür verantwortlich machen kann, was sie in einem englischen Landhause treiben.

Lord Goring: Ja ich weiß, daß eine Menge Leute genau so denken.

Mrs. Cheveley: Ich habe Sie geliebt, Artur.

Lord Goring: Meine liebe Mrs. Cheveley, für echte Liebe waren Sie immer viel zu klug.

Mrs. Cheveley: Ich habe Sie geliebt, Sie haben mich geliebt. Sie wissen, daß Sie mich geliebt haben – und Liebe ist etwas sehr Merkwürdiges. Ich glaube, wenn ein Mann einmal eine Frau geliebt hat, so kann er alles für sie tun, nur sie nicht wieder lieben. Legt ihre Hand auf die seine.

Lord Goring seine Hand ruhig wegziehend: Ja, alles außer diesem einen.

Mrs. Cheveley nach einer Pause: Ich habe genug vom Leben in der Fremde, ich will wieder nach London zurück und hier ein vornehmes Haus führen. Ich will einen Salon haben. Wenn man nur die Engländer zum Reden und die Iren zum Zuhören bringen könnte, so wäre die Gesellschaft hier ganz zivilisiert. Im übrigen befinde ich mich jetzt in meiner romantischen Periode. Als ich Sie gestern abend bei Chilterns sah, wußte ich sofort, daß Sie der einzige Mensch sind, aus dem ich mir je etwas gemacht habe, wenn ich mir überhaupt je aus jemand etwas gemacht habe, Artur. Und deshalb will ich Ihnen an dem Tage, an dem Sie mich heiraten, Robert Chilterns Brief übergeben. Das ist meine Proposition. Ich gebe Ihnen den Brief sofort, wenn Sie mir versprechen, mich zu heiraten.

Lord Goring: Sofort?

Mrs. Cheveley lächelnd: Morgen.

Lord Goring: Ist das wirklich Ihr Ernst?

Mrs. Cheveley: Ja, mein voller Ernst.

Lord Goring: Ich würde einen schlechten Gatten für Sie abgeben.

Mrs. Cheveley: Dagegen habe ich nichts. Ich habe zwei schlechte Gatten gehabt, und sie haben mich brillant amüsiert.

Lord Goring: Sie meinen wohl, daß Sie sich brillant amüsiert haben?

Mrs. Cheveley: Was wissen denn Sie von meinem Eheleben?

Lord Goring: Nichts, aber ich kann darin lesen wie in einem Buch.

Mrs. Cheveley: Und das wäre?

Lord Goring aufstehend: Viertes Buch der Bibel mit einer bezeichnenden Geste Numeri …

Mrs. Cheveley: Finden Sie es korrekt, in Ihrem Hause einer Dame solche Sottisen zu sagen?

Lord Goring: Faszinierenden Frauen verleiht ihre Weiblichkeit nicht Schutz, sondern sie reizt zum Angriff.

Mrs. Cheveley: Ich nehme an, daß das ein Kompliment sein soll. Aber Frauen haben sich durch Komplimente noch nie entwaffnen lassen, mein lieber Artur, nur stets die Männer. Darin liegt auch der Unterschied der beiden Geschlechter.

Lord Goring: Soviel ich weiß, lassen sich Frauen überhaupt durch nichts entwaffnen.

Mrs. Cheveley nach einer Pause: Sie ziehen also vor, Robert Chiltern, Ihren besten Freund dem Untergange zu weihen, statt eine Frau zu heiraten, deren Reize noch lange nicht verblüht sind? Ich hätte gedacht, Sie könnten sich zu einer gewissen Höhe der Selbstverleugnung aufschwingen, Artur. Ich glaube, Sie sollten es tun. Sie könnten dann Ihr ganzes ferneres Leben in der Betrachtung Ihrer eigenen Vollkommenheit verbringen.

Lord Goring: Oh, das tue ich ohnehin. Und Selbstverleugnung sollte gesetzlich verboten werden. Sie demoralisiert nur die Leute, zu deren Gunsten man sich opfert; sie nehmen immer ein schlechtes Ende.

Mrs. Cheveley: Als ob Robert Chiltern noch demoralisiert werden könnte! Sie scheinen zu vergessen, daß ich seinen wahren Charakter kenne.

Lord Goring: Das hat mit seinem wahren Charakter nichts zu tun. Es war eine Jugendtorheit, zugegeben, es war unehrenhaft, zugegeben, schmutzig, zugegeben, seiner unwürdig, und deshalb – hat es nichts mit seinem wahren Charakter zu tun.

Mrs. Cheveley: Wie ihr Männer einander doch immer die Stange haltet!

Lord Goring: Und wie ihr Frauen einander doch immer bekämpft!

Mrs. Cheveley bitter: Ich bekämpfe nur eine einzige Frau – Gertrud Chiltern. Ich hasse sie, hasse sie jetzt mehr als je.

Lord Goring: Wohl deshalb, weil Sie ihr Leben durch und durch zur Tragödie gemacht haben?

Mrs. Cheveley mit spöttischem Lächeln: Oho, es gibt nur eine einzige wirkliche Tragödie im Leben der Frau – die Tatsache, daß ihre Vergangenheit stets ihr Geliebter und die Zukunft beständig ihr Gatte ist.

Lord Goring: Lady Chiltern kennt diese Art von Leben absolut nicht, auf die Sie da anspielen.

Mrs. Cheveley: Eine Frau, die Handschuhe Nummer siebendreiviertel trägt, weiß überhaupt nicht viel von irgend etwas. Sie wissen, Gertrud hat stets Nummer siebendreiviertel getragen. Das war einer der Gründe dafür, warum sich zwischen uns nie ein geistiger Kontakt herstellen konnte … Nun, Artur, ich nehme an, daß diese romantische Begegnung jetzt als beendet angesehen werden muß. Sie geben doch zu, daß es romantisch war, nicht? Dafür, Ihre Gattin werden zu dürfen, war ich bereit, einen großen Preis zu bezahlen – die höchste Staffel meiner diplomatischen Karriere. Sie lehnen es ab. Gut. Wenn Sir Robert mein argentinisches Projekt nicht durchdrückt, so stelle ich ihn bloß. Voilà tout.

Lord Goring: Das dürfen Sie nicht tun, das wäre gemein, abscheulich, infam.

Mrs. Cheveley die Achsel zuckend: Oh, gebrauchen Sie doch nicht so große Worte, sie sagen so wenig. Es handelt sich um eine bloße Geschäftssache, das ist alles. Mit Sentimentalität hat die Angelegenheit nichts zu tun. Ich habe Robert Chiltern eine bestimmte Sache zum Kauf angeboten. Wenn er mir meinen Preis nicht zahlen will, so wird er eben der Welt einen höheren zu zahlen haben. Mehr habe ich nicht zu sagen. Jetzt muß ich gehen. Adieu. Wollen Sie mir nicht die Hand reichen?

Lord Goring: Ihnen? – Nein! Ihre Transaktion mit Robert Chiltern möge Ihnen als eine ekelhafte geschäftliche Transaktion eines ekelhaft geschäftlichen Zeitalters durchgehen. Aber Sie scheinen vergessen zu haben, daß Sie, die heute herkamen, um über Liebe zu sprechen, Sie, deren Lippen das Wort Liebe beschmutzten, Sie, für die dieses Ding ein Buch mit sieben Siegeln ist, heute nachmittag in das Haus einer der nobelsten und vornehmsten Frauen der Welt gegangen sind, um den Gatten in ihren Augen herunterzusetzen, um zu versuchen, ihre Liebe zu ihm zu töten, in ihr Herz Gift zu träufeln, ihr Leben mit Bitterkeit zu erfüllen, ihr Ideal zu zerstören und sogar ihre Seele zu verderben. Das war schrecklich, und dafür gibt es keine Verzeihung.

Mrs. Cheveley: Artur, Sie sind ungerecht gegen mich. Glauben Sie mir, Sie sind höchst ungerecht gegen mich. Ich bin absolut nicht hingegangen, um Gertrud zu reizen. Ich hatte dergleichen nicht im geringsten vor, als ich hinging. Ich habe sie einfach mit Lady Markby besucht, um nachzufragen, ob nicht ein Schmuckstück, ein Juwel, das ich am letzten Abend irgendwo verloren hatte, gefunden worden wäre. Wenn Sie mir nicht glauben, so können Sie Lady Markby fragen, sie wird Ihnen die Wahrheit meiner Aussage bestätigen. Die Szene, die sich dann abspielte, geschah, nachdem Lady Markby sich entfernt hatte und wurde mir einzig und allein durch Gertrudens hämisches und provokantes Wesen aufgezwungen. Ich habe sie – vielleicht auch ein wenig aus Malice, wenn Sie wollen – aber hauptsächlich darum besucht, um zu erfahren, ob sich nicht eine Brillantbrosche, die mir gehört, gefunden habe. Damit hat die ganze Affäre angefangen.

Lord Goring: Eine Schlangenbrosche aus Brillanten mit einem Rubin?

Mrs. Cheveley: Ja – wieso wissen Sie das?

Lord Goring: Weil sie gefunden wurde. Besser gesagt, ich habe sie gefunden und habe dummerweise vergessen, dem Diener etwas davon zu sagen, als ich mich empfahl. Er geht zum Schreibtisch und zieht die Laden auf. Sie liegt in dieser Lade. Nein, in dieser, das ist die Brosche, nicht? Hält die Brosche in die Höhe.

Mrs. Cheveley: Ja, ich bin so froh, sie wieder zurück zu bekommen. Sie war … ein Geschenk.

Lord Goring: Wollen Sie sie nicht anlegen?

Mrs. Cheveley: O ja, wenn Sie mir sie anheften wollen. Lord Goring legt ihr den Schmuck plötzlich um den Arm. Warum legen Sie mir sie wie ein Armband an? Ich habe nie gewußt, daß man sie auch als Armband tragen kann.

Lord Goring: Wirklich nicht?

Mrs. Cheveley ihren schöngeformten Arm ausstreckend: Nein, aber sie nimmt sich auch als Armband vorzüglich aus, nicht?

Lord Goring: Jawohl, bedeutend besser als damals, als ich den Schmuck zum letztenmal gesehen habe.

Mrs. Cheveley: Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?

Lord Goring ruhig: Oh, vor zehn Jahren bei Lady Berkshire, der Sie ihn gestohlen haben.

Mrs. Cheveley stutzig: Was meinen Sie damit?

Lord Goring: Ich meine damit, daß Sie dieses Schmuckstück meiner Cousine Mary Berkshire gestohlen haben, der ich es zu ihrer Hochzeit schenkte. Der Verdacht lenkte sich auf ein armes Dienstmädchen, das mit Schimpf und Schande entlassen wurde. Ich habe den Schmuck gestern abend wieder entdeckt. Ich beschloß, nichts davon verlauten zu lassen, bis ich den Dieb gefunden hätte. Jetzt habe ich den Dieb entdeckt und habe auch sein Geständnis mit eigenen Ohren gehört.

Mrs. Cheveley ihr Haupt schüttelnd: Das ist nicht wahr.

Lord Goring: Sie wissen, daß es wahr ist. Ja, die Diebsschuld ist jetzt in diesem Augenblicke auf Ihrem Gesichte eingegraben.

Mrs. Cheveley: Ich werde das Ganze vom Anfang bis zum Ende ableugnen. Ich werde sagen, daß ich das verdammte Zeug da nie gesehen habe, daß es mir nie gehört hat. Mrs. Cheveley versucht vergeblich, das Armband von ihrem Arm herabzuzerren. Lord Goring sieht ihr vergnügt zu. Ihre dünnen Finger zerren an dem Schmuck sinnlos herum. Ein Fluch entringt sich ihren Lippen.

Lord Goring: Die Kehrseite des Stehlens, Mrs. Cheveley, ist, daß man nie weiß, was für Zauberkünste das Ding kann, das man gestohlen hat. Sie können das Armband nicht herunterbekommen, wenn Sie nicht wissen, wo die Feder ist. Und ich sehe, daß Sie das nicht wissen. Sie ist ziemlich schwer zu finden.

Mrs. Cheveley: Sie Elender! Sie Feigling! Sie versucht von neuem vergeblich, das Armband herunterzubringen.

Lord Goring: Oh, gebrauchen Sie doch nicht so große Worte, sie sagen so wenig.

Mrs. Cheveley zerrt in einem Wutanfall an dem Armband und stößt dabei unartikulierte Laute aus. Dann hört sie auf und blickt Lord Goring an: Was wollen Sie tun?

Lord Goring: Ich will meinem Diener läuten. Er ist das Muster eines Dieners, kommt stets im Augenblick, wo man ihm läutet. Wenn er kommt, werde ich ihm befehlen, die Polizei zu holen.

Mrs. Cheveley zitternd: Die Polizei? Wozu?

Lord Goring: Morgen werden die Berkshires gegen Sie Anzeige erstatten, dazu brauche ich die Polizei.

Mrs. Cheveley in einem physischen Anfall von Entsetzen. Ihr Antlitz ist entstellt, ihr Mund verzerrt – jede Maske ist gefallen. Ihr Anblick ist in diesem Augenblick entsetzlich: Tun Sie's nicht, ich will alles tun, was Sie verlangen, alles in der Welt, was Sie verlangen.

Lord Goring: Geben Sie mir Robert Chilterns Brief!

Mrs. Cheveley: Halt, halt, geben Sie mir Zeit zum Überlegen.

Lord Goring: Geben Sie mir Robert Chilterns Brief.

Mrs. Cheveley: Ich habe ihn nicht bei mir, ich werde Ihnen den Brief morgen geben.

Lord Goring: Sie wissen am besten, daß Sie lügen, also geben Sie ihn sofort her. Mrs. Cheveley zieht den Brief hervor und reicht ihn dem Lord. Ihr Gesicht ist entsetzlich bleich. Ist das der Brief?

Mrs. Cheveley mit heiserer Stimme: Ja.

Lord Goring nimmt den Brief, prüft ihn, seufzt und verbrennt ihn über der Lampe: Für eine so elegante Dame, Mrs. Cheveley, haben Sie Momente bewunderungswürdigen Verstandes. Ich gratuliere Ihnen.

Mrs. Cheveley erblickt den Brief der Lady Chiltern, dessen Kuvert eben unter der Schreibmappe hervorlugt: Bitte um ein Glas Wasser.

Lord Goring: Sofort. Geht in die Ecke des Zimmers und schenkt Wasser ins Glas. Während er mit dem Rücken gegen Mrs. Cheveley steht, stiehlt sie den Brief. Wie Lord Goring mit dem Glas zurückkommt, weist sie es mit einer Geste zurück.

Mrs. Cheveley: Danke. Wollen Sie mir in meinen Mantel helfen?

Lord Goring: Mit Vergnügen. Legt ihr den Mantel um.

Mrs. Cheveley: Ich danke Ihnen. Ich will es nie wieder versuchen, Robert Chiltern zu behelligen.

Lord Goring: Glücklicherweise haben Sie auch kein Mittel dazu, Mrs. Cheveley.

Mrs. Cheveley: Und auch wenn ich das Mittel hätte, möchte ich es nicht tun. Im Gegenteil, ich bin eben im Begriffe, ihm einen großen Dienst zu erweisen.

Lord Goring: Ich bin entzückt von dieser Kunde; das bedeutet ja einen völligen Wandel.

Mrs. Cheveley: Jawohl. Ich kann nicht zusehen, wie ein vollkommener Gentleman, ein so ehrenhafter englischer Gentleman, so schamlos getäuscht wird und so –

Lord Goring: Nun?

Mrs. Cheveley: Ich finde, daß sich Gertrud Chilterns Beichtzettel und Todesurteil auf irgendeine Weise in meine Tasche verirrt hat.

Lord Goring: Was meinen Sie damit?

Mrs. Cheveley mit einem bittern Tone des Triumphes in ihrer Stimme: Ich meine, daß ich Robert Chiltern den Liebesbrief schicken will, den Ihnen seine Frau heut abend geschrieben hat.

Lord Goring: Liebesbrief?

Mrs. Cheveley lachend: »Ich muß Sie sprechen – vertraue Ihnen – ich werde zu Ihnen kommen! Gertrud.« Lord Goring eilt zum Schreibtisch und hebt das Kuvert auf, findet es leer und wendet sich um.

Lord Goring: Elende Kreatur, mußt du immer stehlen? Geben Sie mir den Brief zurück, ich nehme Ihnen sonst den Brief mit Gewalt weg. Sie verlassen das Zimmer nicht eher, als bis ich ihn habe. Er eilt auf sie zu, aber Mrs. Cheveley drückt rasch auf die elektrische Klingel, die auf dem Tische liegt. Die Klingel ertönt mit lautem Schall, Phipps tritt ein.

Mrs. Cheveley nach einer Pause: Lord Goring hat geläutet, damit Sie mich hinaus begleiten. Gute Nacht, Lord Goring. Sie geht, von Phipps begleitet, hinaus. Ihr Gesicht erstrahlt in diabolischem Triumphe. Freude glänzt aus ihrem Auge, sie scheint ihre Jugend wieder gefunden zu haben. Ihr letzter Blick trifft wie ein Pfeil. Lord Goring beißt sich in die Lippen und steckt sich eine Zigarette an.

Vierter Akt

Dieselbe Szene wie im zweiten Akt.

Lord Goring steht beim Kamin, die Hände in den Taschen. Er sieht ziemlich gelangweilt drein.

Lord Goring zieht seine Uhr heraus, betrachtet sie und klingelt: Wie abscheulich! Ich kann in diesem Hause niemand auftreiben, mit dem ich sprechen könnte. Und ich bin voll von interessanten Neuigkeiten. Ich komme mir vor wie die letzte Ausgabe von irgend etwas. Ein Diener tritt ein.

James: Sir Robert ist noch im Auswärtigen Amte, Mylord.

Lord Goring: Ist Lady Chiltern nicht unten?

James: Die gnädige Frau hat ihr Zimmer noch nicht verlassen. Miß Chiltern ist gerade vom Reiten nach Hause gekommen.

Lord Goring zu sich: Das ist schon etwas.

James: Lord Caversham wartet seit einiger Zeit im Bibliothekszimmer auf Sir Robert. Ich habe ihm gesagt, daß Eure Lordschaft hier sind.

Lord Goring: Ich danke Ihnen. Möchten Sie ihm freundlichst ausrichten, daß ich schon weg bin?

James mit einer Verbeugung: Ich werde es besorgen. Diener ab.

Lord Goring: Ich möchte meinen Vater wirklich nicht drei Tage nacheinander treffen, das ist viel zu viel Aufregung für einen Sohn. Ich hoffe zu Gott, er wird nicht heraufkommen. Väter sollen sich weder sehen noch hören lassen, das ist die einzig richtige Basis für ein geordnetes Familienleben. Bei Müttern ist das etwas anderes. Mütter sind immer lieb und gut. Wirft sich in einen Sessel, nimmt eine Zeitung und beginnt zu lesen. Lord Caversham tritt ein.

Lord Caversham: Nun, was treibst du denn hier? Deine Zeit vertrödeln, wie gewöhnlich?

Lord Goring läßt die Zeitung fallen und erhebt sich: Lieber Papa, wenn man Besuche macht, so will man doch die Zeit der anderen, nicht die eigene vertrödeln.

Lord Caversham: Hast du darüber nachgedacht, was ich gestern abend mit dir besprochen habe?

Lord Goring: Ich habe an nichts anderes gedacht.

Lord Caversham: Also entschlossen, endlich zu heiraten?

Lord Goring fröhlich: Jetzt noch nicht, aber hoffentlich noch vor dem Lunch.

Lord Caversham kaustisch: Du kannst dir bis zum Diner Zeit lassen, wenn dir es besser paßt.

Lord Goring: Herzlichsten Dank, aber ich möchte lieber noch vor dem Lunch verlobt sein.

Lord Caversham: Hm, weiß nie, wann du seriös bist und wann nicht.

Lord Goring: Ich genau so wenig, Papa. Pause.

Lord Caversham: Schätze, daß du die »Times« heute schon gelesen hast?

Lord Goring: Die »Times«? Nein, gewiß nicht, ich lese bloß die »Morning-Post«. All das, was man vom fashionablen Leben zu wissen braucht, ist, wo die Herzoginnen sind, alles andere wirkt demoralisierend.

Lord Caversham: Du willst also sagen, daß du den Leitartikel der »Times« über Robert Chilterns Karriere nicht gelesen hast?

Lord Goring: Großer Gott, nein! Was steht darin?

Lord Caversham: Was soll wohl darin stehen? Nichts als Elogen. Chilterns Rede über dieses argentinische Kanalprojekt war eine der feinsten oratorischen Leistungen im Hause seit Cannings Zeiten.

Lord Goring: Ah – hab' nie etwas von Canning gehört, habe auch nie den Wunsch gehabt. Und hat Chiltern … hat Chiltern für das Kanalprojekt gesprochen?

Lord Caversham: Dafür gesprochen? Wie schlecht du ihn kennst! Nein, er sprach heftig dagegen, wie überhaupt gegen das ganze System der heutigen politischen Finanzwirtschaft. Diese Rede ist, wie die »Times« hervorhebt, der Gipfelpunkt in seiner Karriere. Du solltest diesen Artikel lesen. Schlägt die »Times« auf. »Sir Robert Chiltern … das größte Talent unter unseren jüngeren Politikern … Brillanter Redner … Tadellose Karriere … allseits bekannte Integrität seines Charakters … Repräsentiert den besten Kern englischen Lebens … Wohltuender Kontrast zu der laxen Moral, die so sehr unter den ausländischen Politikern eingerissen ist.« Von dir wird man das nie behaupten.

Lord Goring: Das hoffe ich selbst aufrichtig, Papa. Aber immerhin bin ich entzückt davon, was du mir von Robert vorgelesen hast, aufrichtig entzückt. Es zeigt, daß er Mut gehabt hat.

Lord Caversham: Mehr als das, er hat Genie.

Lord Goring: Ich bin mehr für Mut, es ist heute weniger vulgär, als Genie.

Lord Caversham: Ich wollte, du kämst ins Parlament.

Lord Goring: Lieber Papa, nur Leute, die dumm aussehen, kommen ins Parlament, und nur Leute, die dumm sind, kommen dort weiter.

Lord Caversham: Warum versuchst du nicht, etwas Nützliches im Leben zu leisten?

Lord Goring: Dazu bin ich noch zu jung.

Lord Caversham mürrisch: Ich hasse dieses affektierte Markieren der Jugend, es ist heute schon ein wenig zu sehr im Schwung.

Lord Goring: Jung sein, ist keine Affektation; jung sein, ist eine Kunst.

Lord Caversham: Warum bewirbst du dich nicht um die reizende Miß Chiltern?

Lord Goring: Ich bin in einem so nervösen Zustand, hauptsächlich des Morgens.

Lord Caversham: Vermutlich ist nicht die geringste Aussicht vorhanden, daß sie dich erhörte.

Lord Goring: Ich weiß nicht, wie die Chancen heute stehen.

Lord Caversham: Wenn sie dich erhörte, so wäre sie die hübscheste Närrin von ganz England.

Lord Goring: Das ist es gerade, was ich am liebsten heiraten würde. Ein durch und durch vernünftiges Weib würde mich in weniger als sechs Monaten in den Zustand vollkommener Idiotie versetzen.

Lord Caversham: Du verdienst sie nicht.

Lord Goring: Mein lieber Papa, wenn wir die Frauen heirateten, die wir verdienen, so würde es uns recht schlecht gehen. Mabel Chiltern tritt ein.

Mabel Chiltern: Oh … wie geht es, Lord Caversham? Ich hoffe, Lady Caversham ist wohlauf?

Lord Caversham: Lady Caversham geht's wie gewöhnlich, wie gewöhnlich.

Lord Goring: Guten Morgen, Miß Mabel!

Mabel Chiltern nimmt absolut keine Notiz von Lord Goring und wendet sich ausschließlich an Lord Caversham: Und Lady Cavershams Hüten – geht's denen besser?

Lord Caversham: Ich muß zu meinem Bedauern sagen, daß sie einen bedenklichen Rückfall erlitten haben.

Lord Goring: Guten Morgen, Miß Mabel!

Mabel Chiltern zu Lord Caversham: Aber eine Operation wird hoffentlich nicht nötig sein?

Lord Caversham über ihre Naseweisheit lächelnd: Wenn ja, so werden wir Lady Caversham wohl narkotisieren müssen, sonst würde sie nie und nimmer zugeben, daß auch nur eine Feder angerührt wird.

Lord Goring mit steigender Emphase: Guten Morgen, Miß Mabel!

Mabel Chiltern sich mit geheucheltem Erstaunen umwendend: Oh, Sie sind auch da? Sie werden doch hoffentlich verstehen, daß ich nie wieder mit Ihnen sprechen kann, nachdem Sie Ihr Rendezvous nicht eingehalten haben.

Lord Goring: Bitte, bitte, sagen Sie so etwas nicht. Sie sind die einzige Person in London, die ich wirklich gerne zur Zuhörerin habe.

Mabel Chiltern: Lord Goring, ich glaube kein einziges Wort mehr, das wir miteinander wechseln.

Lord Caversham: Sie haben ganz recht, mein Kind, ganz recht – natürlich meine ich, was ihn betrifft …

Mabel Chiltern: Glauben Sie, daß Sie Ihren Herrn Sohn dazu bringen könnten, sich hier und da besser aufzuführen? Nur zur Abwechslung.

Lord Caversham: Es tut mir leid, Miß Chiltern, Ihnen sagen zu müssen, daß ich absolut keinen Einfluß auf meinen Sohn habe. Ich wollte, ich hätte ihn; ich wüßte, was ich ihn tun ließe.

Mabel Chiltern: Schade, daß er eine von jenen schrecklich schwachen Naturen hat, die sich nicht beeinflussen lassen.

Lord Caversham: Er ist gefühllos, total gefühllos.

Lord Goring: Ich habe den Eindruck, als wär' ich hier ein wenig im Wege.

Mabel Chiltern: Es ist ganz gut für Sie, im Wege zu sein und zu hören, was die Leute hinter Ihrem Rücken sagen.

Lord Goring: Ich habe absolut keine Vorliebe dafür, zu wissen, was die Leute hinter meinem Rücken sagen. Es macht mich viel zu eingebildet.

Lord Caversham: Aber jetzt muß ich Ihnen wirklich Adieu sagen, mein Kind.

Mabel Chiltern: Sie werden mich doch nicht mit Lord Goring allein lassen wollen? Besonders zu einer so frühen Stunde?

Lord Caversham: Ich kann ihn leider nicht mit nach Downing Street nehmen. Heute ist nicht der Tag, an dem der Ministerpräsident die Arbeitslosen empfängt. Gibt Mabel Chiltern die Hand, nimmt Hut und Stock und geht mit einem Abschiedsblick der Unzufriedenheit auf Lord Goring ab.

Mabel Chiltern nimmt Rosen und beginnt sie in einer Jardinière am Tische zu arrangieren: Leute, die ihre Rendezvous im Parke nicht einhalten, sind abscheulich.

Lord Goring: Schauderhaft.

Mabel Chiltern: Ich freue mich, daß Sie das zugeben. Aber ich möchte, daß Sie deswegen nicht gar so vergnügt dreinsehen.

Lord Goring: Ich kann mir nicht helfen, ich sehe immer so vergnügt aus, wenn ich bei Ihnen bin.

Mabel Chiltern schmollend: Dann ist es also vermutlich meine Pflicht, bei Ihnen zu bleiben.

Lord Goring: Das will ich meinen.

Mabel Chiltern: Pflicht ist für mich das, was ich prinzipiell nie tue, weil es mich immer verstimmt; so muß ich Sie denn leider verlassen.

Lord Goring: Bitte nein, Miß Mabel. Ich habe Ihnen etwas ganz Besonderes zu sagen.

Mabel Chiltern entzückt: Oh, handelt es sich um einen Antrag?

Lord Goring einigermaßen überrascht: Ja, es handelt – sich sozusagen darum – ich muß es zugestehen.

Mabel Chiltern mit sichtlichem Vergnügen: Ich freue mich so darüber, das ist heute schon der zweite.

Lord Goring indigniert: Heute schon der zweite? Welcher eingebildete Esel hat die Frechheit gehabt, Ihnen vor mir einen Antrag zu machen?

Mabel Chiltern: Selbstverständlich – Tommy Trafford. Heute hat Tommy wieder einmal das Anhalten. Jeden Dienstag und Donnerstag während der Saison hält er an.

Lord Goring: Sie haben ihn doch hoffentlich nicht erhört?

Mabel Chiltern: Ich habe mir's zur Regel gemacht, Tommy nicht zu erhören, darum setzt er seine Werbungen so konsequent fort. Allerdings war ich heute nahe daran, »ja« zu sagen, als Sie heute morgen nicht erschienen. Das wäre sowohl für Sie wie für ihn eine treffliche Lektion gewesen, es hätte euch beiden Manieren beigebracht.

Lord Goring: Zum Kuckuck mit Tommy Trafford; er ist ein dummer, kleiner Esel. Ich liebe Sie.

Mabel Chiltern: Ich weiß es, und Sie hätten das früher schon vorbringen können. Ich weiß bestimmt, daß ich Ihnen tausendmal Gelegenheit dazu gegeben habe.

Lord Goring: Mabel, bitte, seien Sie ernst, seien Sie ernst.

Mabel Chiltern: Aha, das ist immer die Art, in der ein Mann zu einem Mädchen spricht, bevor er es geheiratet hat; später sagt er das dann nie wieder.

Lord Goring ihre Hand ergreifend: Mabel, ich habe Ihnen gesagt, daß ich Sie liebe. Wollen Sie mich nicht auch ein bißchen lieb haben?

Mabel Chiltern: Du einfältiger Artur! Wenn du das Geringste von dem verstündest, wovon du eben nichts verstehst, so würdest du wissen, daß ich in dich vernarrt bin. Jedermann in London, außer dir, weiß das. Die Art und Weise, wie ich's mit dir treibe, grenzt schon an Skandal. Ich bin die letzten sechs Monate herumgegangen und habe jedermann erzählt, daß ich in dich vernarrt bin. Ich wundere mich, daß du überhaupt noch zu mir sprichst, ich habe gar keinen Charakter mehr. Wenigstens fühle ich mich so glücklich, daß ich bestimmt weiß, keinen Charakter mehr zu haben.

Lord Goring umschließt sie mit seinen Armen und küßt sie; dann Pause stummen Glückes: Mein Lieb, weißt du, ich hatte schon Angst, einen Korb zu bekommen.

Mabel Chiltern zu ihm aufblickend: Aber du hast doch bisher noch nie einen bekommen oder doch? Ich kann mir nicht vorstellen, daß du einen Korb bekommen könntest.

Lord Goring küßt sie wieder: Bei Gott, ich bin auch nicht annähernd gut genug für dich, Mabel.

Mabel Chiltern sich an ihn anschmiegend: Darüber bin ich so froh, Liebster, ich hatte schon Angst, du wärest es.

Lord Goring nach einigem Zögern: Und dann bin ich … bin ich schon ein bißchen über die Dreißig.

Mabel Chiltern: Mein Lieb, du siehst um Wochen jünger aus.

Lord Goring enthusiastisch: Wie süß von dir, mir das zu sagen … Und ferner halte ich es für fair, dir zu verraten, daß ich so furchtbare Extravaganzen habe.

Mabel Chiltern: Genau wie ich, Artur. So wissen wir also, daß wir zusammen passen. Aber jetzt muß ich gehen und mit Gertrud sprechen.

Lord Goring: Mußt du wirklich gehen? Küßt sie.

Mabel Chiltern: Ja.

Lord Goring: Dann sag ihr, ich bitte, daß ich notwendig mit ihr sprechen muß. Ich habe hier den ganzen Morgen gewartet, um entweder sie oder Robert zu sprechen.

Mabel Chiltern: Willst du damit sagen, daß du nicht in der ausschließlichen Absicht hergekommen bist, um meine Hand anzuhalten?

Lord Goring triumphierend: Nein, das war ein Geistesblitz.

Mabel Chiltern: Dein erster.

Lord Goring mit Bestimmtheit: Mein letzter.

Mabel Chiltern: Wie mich das zu hören freut. Jetzt rühr' dich aber nicht, in fünf Minuten bin ich wieder da. Und unterliege keinen Versuchungen während meiner Abwesenheit.

Lord Goring: Süße Mabel, solange du nicht da bist, gibt es keine Versuchungen, darin bin ich vollkommen abhängig von dir. Lady Chiltern tritt ein.

Lady Chiltern: Guten Morgen, mein Kind. Wie gut du aussiehst.

Mabel Chiltern: Und wie blaß du bist, Gertrud; es steht dir großartig.

Lady Chiltern: Guten Morgen, Lord Goring.

Lord Goring sich verbeugend: Guten Morgen, Lady Chiltern.

Mabel Chiltern leise zu Lord Goring: Ich bin einstweilen im Wintergarten, unter der zweiten Palme links.

Lord Goring: Unter der zweiten Palme links?

Mabel Chiltern mit einem Blick gespielter Überraschung: Ja, unter dem gewöhnlichen Palmenbaum. Wirft ihm, unbemerkt von Lady Chiltern, eine Kußhand zu und läuft hinaus.

Lord Goring: Lady Chiltern, ich habe Ihnen einen ganzen Berg erfreulicher Nachrichten mitzuteilen. Mrs. Cheveley gab mir gestern abend Roberts Brief zurück, den ich verbrannt habe. Robert ist gerettet.

Lady Chiltern auf das Sofa sinkend: Gerettet! Oh, ich bin so glücklich! Welch guter Freund Sie ihm – Sie uns sind.

Lord Goring: Es gibt jetzt nur eine Person, von der man sagen könnte, daß sie in Gefahr sei.

Lady Chiltern: Wer ist das?

Lord Goring sich neben sie setzend: Sie selbst.

Lady Chiltern: Ich? In Gefahr? Was meinen Sie damit?

Lord Goring: Gefahr ist eigentlich ein zu großes Wort, ein Wort, das ich nicht hätte gebrauchen sollen. Aber ich gebe zu, daß ich Ihnen etwas sagen muß, was Sie sehr aufregen wird, gerade so, wie es mich aufregt. Gestern abend schrieben Sie mir einen wirklich schönen, echt weiblichen Brief, in dem Sie meine Hilfe erbaten. Sie schrieben mir als einem Ihrer ältesten Freunde, einem der ältesten Freunde Ihres Mannes. Mrs. Cheveley hat den Brief aus meinem Zimmer gestohlen.

Lady Chiltern: Gut, was will sie damit? Warum soll sie ihn nicht haben?

Lord Goring sich erhebend: Lady Chiltern, ich will ganz aufrichtig mit Ihnen sprechen. Mrs. Cheveley knüpft gewisse Kombinationen an diesen Brief und trägt sich mit der Ansicht, ihn Ihrem Manne zu schicken.

Lady Chiltern: Aber was für Kombinationen kann sie an diesen Brief knüpfen? … Oh, nur das nicht, nur das nicht! Wenn ich … in höchster Verzweiflung, Ihrer Hilfe bedürftig, in vollem Vertrauen, Ihnen schreibe, daß ich zu Ihnen eilen will … damit Sie mir raten … damit Sie mir beistehen … Oh, sind die Frauen so tief gesunken? … Und sie hat die Absicht, den Brief meinem Manne zu schicken? Erzählen Sie mir, was vorgefallen ist, erzählen Sie mir alles, was vorgefallen ist.

Lord Goring: Mrs. Cheveley war ohne mein Wissen in einem Zimmer versteckt, das an meine Bibliothek stößt. Ich dachte, daß die Dame, die dort in jenem Zimmer wartete, um mich zu sprechen, Sie selber wären. Robert kam nun ganz unerwartet. Ein Sessel oder sonst etwas fiel im Zimmer um. Robert erzwang sich den Weg hinein und entdeckte Mrs. Cheveley. Es kam zwischen uns zu einem schrecklichen Auftritt. Ich dachte noch immer, Sie wären es. Robert verließ mich im Zorne. Zum Schluß setzte sich Mrs. Cheveley in den Besitz Ihres Briefes – sie stahl ihn einfach – wann oder wie, weiß ich nicht.

Lady Chiltern: Zu welcher Zeit geschah das alles?

Lord Goring: Um halb elf Uhr. Und jetzt schlage ich vor, daß wir Robert die ganze Sache sogleich erzählen.

Lady Chiltern ihn mit fast entsetztem Erstaunen anblickend: Sie wollen, daß ich Robert sage, die Frau, die Sie erwarteten, sei nicht Mrs. Cheveley, sondern ich selber gewesen? Daß ich es war, von der Sie glaubten, sie wäre um halb elf Uhr nachts in einem Ihrer Zimmer versteckt. Sie wollen, daß ich ihm das sage?

Lord Goring: Ich würde es für angezeigter halten, wenn er die volle Wahrheit erfährt.

Lady Chiltern aufstehend: Das könnte ich nicht, das könnte ich nicht.

Lord Goring: Soll ich es tun?

Lady Chiltern: Nein.

Lord Goring ernst: Sie setzen sich ins Unrecht, Lady Chiltern.

Lady Chiltern: Nein. Der Brief muß aufgefangen werden, das ist das einzige. Aber wie kann ich es? Jeden Moment kommen Briefe für ihn an. Seine Sekretäre öffnen sie und händigen sie ihm ein. Ich wage es nicht, der Dienerschaft den Auftrag zu geben, mir seine Briefe zu bringen, das wäre nicht möglich. Oh, warum sagen Sie mir nicht, was ich tun soll!

Lord Goring: Bitte, beruhigen Sie sich, Lady Chiltern, und beantworten Sie mir die Fragen, die ich an Sie richten werde. Sie sagten, seine Sekretäre öffnen seine Briefe?

Lady Chiltern: Ja!

Lord Goring: Wer ist heute bei ihm, Mr. Trafford?

Lady Chiltern: Nein, ich glaube, Mr. Montford.

Lord Goring: Können Sie ihm vertrauen?

Lady Chiltern mit einer Gebärde der Verzweiflung: Wie kann ich das wissen?

Lord Goring: Glauben Sie, daß er täte, worum Sie ihn bitten?

Lady Chiltern: Ich glaube wenigstens.

Lord Goring: Ihr Brief war auf rosa Papier geschrieben! Er könnte ihn daran erkennen, ohne den Brief selbst zu lesen, nicht? An der Farbe?

Lady Chiltern: Ich denke.

Lord Goring: Befindet er sich jetzt im Hause?

Lady Chiltern: Ja.

Lord Goring: So will ich zu ihm und ihm sagen, daß ein Brief auf rosa Papier Robert zugesandt werden wird, und daß dieser Brief ihm unter keinen Bedingungen zukommen darf. Geht zur Türe und öffnet sie. Oh, Robert kommt eben die Treppe herauf mit dem Briefe in der Hand; er hat ihn schon erreicht.

Lady Chiltern mit einem Schrei der Verzweiflung: Oh, sein Leben haben Sie gerettet, aber was haben Sie mit dem meinen getan! Sir Robert Chiltern tritt ein; er hält den Brief in der Hand und liest ihn. So nähert er sich seiner Frau, ohne die Gegenwart Lord Gorings zu bemerken.

Sir Robert Chiltern: Sie muß mit mir sprechen … vertraut mir … will zu mir kommen … O mein Lieb, ist das wahr? Vertraust du mir wirklich und bedarfst du meiner? Wenn dem so ist, so war es an mir, zu dir zu kommen, nicht an dir, mir zu schreiben. Der Brief von deiner Hand, Gertrud, macht mich fühlen, daß nichts, was auch die Welt tun mag, mich verletzen kann. Du bedarfst meiner? Lord Goring bedeutet, ohne von Sir Robert gesehen zu werden, der Lady Chiltern durch eine bittende Gebärde, sich die Situation und Sir Roberts Mißverständnis zunutze zu machen.

Lady Chiltern: Ja.

Sir Robert Chiltern: Du vertraust mir, Gertrud?

Lady Chiltern: Ja.

Sir Robert Chiltern: Und warum hast du nicht auch beigefügt, daß du mich liebst?

Lady Chiltern seine Hand ergreifend: Weil ich dich liebe. Lord Goring verschwindet in den Wintergarten.

Sir Robert Chiltern sie küssend: Gertrud, du weißt nicht, was in mir vorgeht. Als Montford mir deinen Brief über den Tisch hinüberreichte – er hatte ihn, glaube ich, irrtümlich geöffnet, ohne die Schrift der Adresse zu beachten – und ich den Brief las – oh – da dachte ich nicht mehr daran, welches Mißgeschick oder welche Strafe meiner noch harrt, ich dachte einzig daran, daß du mich noch liebst.

Lady Chiltern: Du brauchst weder Mißgeschick noch öffentlichen Skandal mehr zu fürchten. Mrs. Cheveley hat das Dokument, das in ihrem Besitz war, Lord Goring ausgehändigt, und er hat es vernichtet.

Sir Robert Chiltern: Weißt du das sicher, Gertrud?

Lady Chiltern: Ja, Lord Goring hat es mir eben gesagt.

Sir Robert Chiltern: Dann bin ich gerettet. O welch wunderbares Gefühl, gerettet zu sein! Zwei Tage lang habe ich in entsetzlichem Schrecken verlebt, jetzt aber bin ich gerettet. Wie hat Artur meinen Brief vernichtet? Erzähle es mir!

Lady Chiltern: Er hat ihn verbrannt.

Sir Robert Chiltern: Ich wollte, ich hätte zusehen können, wie die Sünde meiner Jugend zu Asche verbrannt wurde. Wie viele Menschen unserer Zeit würden wünschen, zusehen zu dürfen, wie die Vergangenheit vor ihnen zu weißer Asche verbrannt wird. Ist Artur noch hier?

Lady Chiltern: Ja, er ist im Wintergarten.

Sir Robert Chiltern: Ich bin so froh, meine Rede gestern nacht im Hause gehalten zu haben, so froh. Ich hielt sie im Gefühle, daß die Verachtung der Öffentlichkeit die Folge sein werde. Das ist aber nicht geschehen.

Lady Chiltern: Der Beifall der Öffentlichkeit war die Folge.

Sir Robert Chiltern: Ich denke so, ich fürchte beinahe so. Denn wenn ich auch vor Entdeckung sicher bin, wenn auch jeder Beweis gegen mich vernichtet ist, Gertrud, so meine ich doch … so meine ich doch, daß ich mich vom öffentlichen Leben zurückziehen sollte. Er betrachtet sie ängstlich.

Lady Chiltern eifrig: Ja, Robert, das solltest du tun. Es ist deine Pflicht, das zu tun.

Sir Robert Chiltern: Das heißt viel aufgeben.

Lady Chiltern: Nein, viel gewinnen. Sir Robert geht mit unruhiger Miene im Zimmer auf und ab. Dann geht er auf seine Gattin zu und legt ihr die Hand auf die Schulter.

Sir Robert Chiltern: Und wärest du glücklich, mit mir irgendwo draußen, in der Fremde vielleicht, oder fern auf dem Lande, fern von London, fern vom gesellschaftlichen Leben zu leben? Würdest du es nicht bedauern?

Lady Chiltern: O nein, Robert.

Sir Robert Chiltern: Und dein Ehrgeiz, den du für mich gehegt hast? Du pflegtest ehrgeizig für mich zu sein.

Lady Chiltern: Oh, mein Ehrgeiz. Jetzt habe ich keinen anderen Ehrgeiz mehr, als daß wir beide einander lieben mögen. Es war dein Ehrgeiz, der dich verführt hat. Sprechen wir nicht mehr von Ehrgeiz. Lord Goring kommt mit einer außerordentlich selbstzufriedenen Miene aus dem Wintergarten zurück; er trägt eine ganz andere Blume als früher im Knopfloch, eine Blume, die ihm jemand gegeben haben muß.

Sir Robert Chiltern auf ihn zugehend: Artur, ich muß dir Dank sagen für das, was du für mich getan hast. Ich weiß nicht, wie ich es dir vergelten soll. Schüttelt ihm die Hand.

Lord Goring: Lieber Freund, das will ich dir sofort sagen. Eben jetzt, unter dem gewöhnlichen Palmbaum … Ich meine im Wintergarten … Mason tritt ein.

Mason: Lord Caversham.

Lord Goring: Mein bewunderungswürdiger Papa macht geradezu einen Sport daraus, immer im unrichtigen Augenblick zu erscheinen. Er ist gefühllos, ganz gefühllos. Lord Caversham erscheint. Mason ab.

Lord Caversham: Guten Morgen, Lady Chiltern! Ihnen, Chiltern, herzlichste Gratulation zu Ihrer gestrigen, brillanten Rede. Ich komme eben vom Ministerpräsidenten, Sie sollen den vakanten Sitz im Ministerium erhalten.

Sir Robert Chiltern mit einem freudigen und triumphierenden Blicke: Einen Sitz im Ministerium?

Lord Caversham: Ja, hier ist der Brief des Ministerpräsidenten. Übergibt ihm den Brief.

Sir Robert Chiltern nimmt den Brief und liest ihn: Einen Sitz im Ministerium.

Lord Caversham: Gewiß, und Sie verdienen ihn auch. Sie haben das, was wir heute so sehr im politischen Leben brauchen – vornehmen Charakter, vornehme ethische Gesinnung, vornehme Prinzipien. Zu Lord Goring: Alles das, was du nie gehabt hast und auch nie haben wirst.

Lord Goring: Ich bin kein Freund von Prinzipien, Papa, ich gebe mehr auf Vorurteile. Sir Robert Chiltern ist eben daran, dem Rufe des Ministerpräsidenten zu folgen, als er seine Gattin erblickt, die ihn mit ihren klaren, offenen Augen ansieht. Da kommt es ihm zum Bewußtsein, daß es unmöglich ist.

Sir Robert Chiltern: Ich kann diesem Rufe nicht folgen, ich bin entschlossen, ihn abzulehnen.

Lord Caversham: Ihn abzulehnen?

Sir Robert Chiltern: Mein Entschluß ist, mich in Kürze vom politischen Leben zurückzuziehen.

Lord Caversham verdrießlich: Einen Sitz im Kabinett abzulehnen und sich vom politischen Leben zurückzuziehen? Hab' einen so verdammten Unsinn mein ganzes langes Leben nicht gehört. Bitte um Vergebung, Lady Chiltern. Bitte um Entschuldigung. Zu Lord Goring: Du, grins' nicht so!

Lord Goring: Gewiß, Papa.

Lord Caversham: Lady Chiltern, Sie sind eine verständige Frau, die verständigste von London, die verständigste Frau, die ich überhaupt kenne. Wollen Sie Ihren Mann freundlichst abhalten, einen solchen Unsinn … so dummes Zeug … Wollen Sie das freundlichst tun, Lady Chiltern?

Lady Chiltern: Ich glaube, mein Mann hat recht mit seinem Entschlusse, Lord Caversham, ich stimme ihm bei.

Lord Caversham: Sie geben ihm recht? Gerechter Himmel!

Lady Chiltern die Hand ihres Gatten ergreifend: Ich bewundere ihn deshalb, ich bewundere ihn deshalb unsagbar, nie habe ich ihn vorher so sehr bewundert. Er denkt noch nobler, als ich von ihm erwartet hätte. Zu Sir Robert Chiltern: Du wirst also jetzt den Brief an den Ministerpräsidenten schreiben, nicht? Zögere nicht damit, Robert.

Sir Robert Chiltern mit ein wenig Bitterkeit: Ich glaube auch, daß es am besten ist, ihn sofort zu schreiben. Solche Anträge werden nicht zweimal gestellt. Ich muß Sie einen Augenblick um Entschuldigung bitten, Lord Caversham.

Lady Chiltern: Soll ich mit dir gehen, Robert, oder nicht?

Sir Robert Chiltern: Komm, Gertrud. Lady Chiltern mit ihm ab.

Lord Caversham: Was geht in diesem Hause vor? Etwas nicht ganz in Ordnung, he? An seine Stirne greifend. Gehirnschwund, vielleicht erbliche Belastung? Und beide zugleich, Mann sowohl wie Frau. Wirklich traurig, im höchsten Grade traurig. Und dabei sind sie gar nicht aus so alter Familie. Mir unbegreiflich.

Lord Goring: Es ist nicht Verblödung, ich kann dir's versichern, Papa.

Lord Caversham: Was denn dann?

Lord Goring nach einiger Überlegung: Nur das, was man heutzutage vornehme ethische Gesinnung nennt, Papa, sonst nichts.

Lord Caversham: Mag diese neugeprägten Worte nicht; dasselbe also, was wir vor fünfzig Jahren einfach Gehirnschwund genannt haben. Kann hier nicht länger bleiben.

Lord Goring ihn beim Arm nehmend: Ich bitte, geh' da nur für einen Augenblick hinein, Papa. Dritte Palme links, die gewöhnliche Palme.

Lord Caversham: Wie?

Lord Goring: Ich bitte um Entschuldigung, Papa, ich habe mich getäuscht. Im Wintergarten, Papa, im Wintergarten ist jemand, mit dem du sprechen sollst.

Lord Caversham: Worüber?

Lord Goring: Über mich.

Lord Caversham griesgrämig: Nicht das richtige Sujet, über das man viel Worte verlieren könnte.

Lord Goring: Nein, aber die Dame gleicht darin mir, auch sie gibt auf die Eloquenz der anderen nicht viel. Sie findet sie prahlerisch. Lord Caversham geht in den Wintergarten. Lady Chiltern tritt ein.

Lord Goring: Lady Chiltern, warum spielen Sie Mrs. Cheveleys Rolle?

Lady Chiltern betroffen: Ich verstehe Sie nicht.

Lord Goring: Mrs. Cheveley hat den Versuch gemacht, Ihren Gatten zu ruinieren, indem sie ihn im öffentlichen Leben unmöglich machen oder zu einer unehrenhaften Position zwingen wollte. Vor der zweiten Tragödie haben Sie ihn bewahrt, die erste aber wollen auch Sie ihm jetzt aufzwingen. Warum wollen Sie ihm das Übel zufügen, das ihm Mrs. Cheveley, und zwar vergeblich antun wollte?

Lady Chiltern: Lord Goring?

Lord Goring sich zu einer großen Anstrengung aufraffend und den Philosophen enthüllend, der unter der Maske eines Dandys verborgen liegt: Lady Chiltern, erlauben Sie mir. Sie schrieben mir gestern abend einen Brief, in dem Sie mir sagten, Sie bedürften meiner Hilfe und hätten Vertrauen zu mir. Jetzt ist der Augenblick, wo Sie wirklich meiner Hilfe bedürfen, jetzt ist die Zeit, wo Sie mir wirklich vertrauen, meinem Rat und Urteil vertrauen sollen. Sie lieben Robert. Wollen Sie seine Liebe zu Ihnen töten? Welche Art Existenz soll er führen, wenn Sie ihm die Früchte seines Ehrgeizes nehmen, ihn aus dem Glanze einer großartigen politischen Karriere ziehen, vor ihm die Tore des öffentlichen Lebens verschließen, ihn zu unfruchtbarem Müßiggang verurteilen, ihn, der nur geschaffen ist für Erfolge und Triumph? Die Frauen sind nicht dazu da, zu richten, sondern uns zu vergeben, wenn wir der Vergebung bedürfen. Mildes Verzeihen, nicht unerbittliches Richten ist ihre Mission. Warum züchtigen Sie ihn mit Ruten für ein Vergehen, das er in seiner Jugend begangen hat, bevor er Sie, bevor er sich selbst gekannt hat? Das Leben eines Mannes hat mehr Wert als das der Frau; ihm blühen größere Möglichkeiten, höhere Ziele, sein Ehrgeiz dringt weiter. Das Leben einer Frau verläuft in Gefühlskurven. Das Leben eines Mannes entwickelt sich auf der geraden Linie der Intelligenz. Machen Sie nicht einen so schrecklichen Fehler, Lady Chiltern. Eine Frau, die sich die Liebe eines Mannes erhalten kann und die ihn selber liebt, hat alles getan, was die Welt von den Frauen verlangt oder von ihnen verlangen sollte.

Lady Chiltern verwirrt und schwankend: Aber es ist mein Gatte selbst, der sich vom politischen Leben zurückzuziehen wünscht; er fühlt, daß es seine Pflicht ist. Er war es, der zuerst davon gesprochen hat.

Lord Goring: Lieber, als Ihre Liebe verlieren, möchte Robert alles tun, auch seine Karriere zerstören, so wie er es jetzt gerade tun will. Er will Ihnen ein unerhörtes Opfer bringen. Befolgen Sie meinen Rat, Lady Chiltern, und nehmen Sie dieses große Opfer nicht an. Wenn Sie es tun, werden Sie es in Ihrem Leben noch bitterlich bereuen. Wir, Frauen und Männer, sind nicht dazu geschaffen, so große Opfer voneinander anzunehmen. Wir sind es gar nicht wert. Und zudem hat Robert schon Strafe genug erlitten.

Lady Chiltern: Wir sind beide genug bestraft worden. Ich habe ihn zu hoch gestellt.

Lord Goring mit tiefer Bewegung in seiner Stimme: Setzen Sie ihn aus diesem Grunde auch nicht zu tief herunter. Wenn er von seinem Altar gestürzt ist, so werfen Sie ihn deswegen noch nicht in den Kot. Durch seinen Fall würde Robert im Schlamme versinken. Seine Leidenschaft ist die Macht. Er würde alles verlieren, sogar die Kraft, Liebe zu fühlen. In diesem Augenblicke ist das Leben Ihres Gatten, die Liebe Ihres Gatten in Ihrer Hand. Zerstören Sie ihm nicht beides. Sir Robert Chiltern tritt ein.

Sir Robert Chiltern: Gertrud, hier ist das Konzept zu meinem Briefe, soll ich es dir vorlesen?

Lady Chiltern: Laß es mich sehen. Sir Robert reicht ihr das Papier. Sie liest den Brief und zerreißt ihn dann mit einer leidenschaftlichen Gebärde.

Sir Robert Chiltern: Was hast du getan?

Lady Chiltern: Das Leben eines Mannes hat mehr Wert als das einer Frau; ihm blühen größere Möglichkeiten, höhere Ziele, sein Ehrgeiz dringt weiter. Unser Leben verläuft nur in Gefühlskurven, das Leben des Mannes entwickelt sich auf der geraden Linie der Intelligenz. Alles das, und noch viel mehr habe ich eben von Lord Goring gelernt. Und ich will dein Leben nicht zerstören und will nicht sehen, wie du es als Opfer, als nutzloses Opfer für mich zerstörst.

Sir Robert Chiltern: Gertrud! Gertrud!

Lady Chiltern: Ihr könnt vergessen, Ihr Männer vergeßt so leicht. Und ich verzeihe, so können wir, die Frauen, der Welt helfen, das sehe ich jetzt ein.

Sir Robert Chiltern von tiefer Rührung erfaßt, küßt sie: Mein Weib, mein Weib! Zu Lord Goring: Artur, es scheint, daß ich dir ewig zu Danke verpflichtet sein soll.

Lord Goring: Aber nein, lieber Robert. Du bist in Lady Chilterns, nicht in meiner Schuld!

Sir Robert Chiltern: Ich verdanke dir viel. Und jetzt sag' mir, um was du mich noch bitten wolltest, als Lord Caversham erschien?

Lord Goring: Robert, du bist der Vormund deiner Schwester, und ich bitte um deine Einwilligung, mich mit ihr verloben zu dürfen. Das ist alles.

Lady Chiltern: Oh, ich bin so froh, so froh! Schüttelt Lord Goring die Hand.

Lord Goring: Ich danke Ihnen, Lady Chiltern.

Sir Robert Chiltern mit dem Ausdrucke des Schreckens: Meine Schwester soll deine Frau werden?

Lord Goring: Ja.

Sir Robert Chiltern mit großer Entschlossenheit: Artur, es tut mir wirklich leid, aber die Sache steht außer jeder Debatte. Ich muß auf Mabels zukünftiges Glück bedacht sein, und ich glaube nicht, daß ihr Glück bei dir in den richtigen Händen wäre. Ich kann sie dir nicht opfern.

Lord Goring: Opfern!

Sir Robert Chiltern: Ja, völlig opfern. Ehen ohne jede Liebe sind entsetzlich, aber es gibt etwas noch Ärgeres, als eine vollkommen liebeleere Ehe – eine Ehe, in der Liebe auf der einen Seite, aber auch nur auf der einen Seite herrscht; wo es Vertrauen, aber nur einseitiges Vertrauen, Zuneigung, aber nur einseitige Zuneigung gibt, und wo eins der beiden Herzen sicher brechen wird.

Lord Goring: Aber ich liebe Mabel. Keine andere Frau spielt in meinem Leben eine Rolle.

Lady Chiltern: Robert, wenn sie einander lieben, warum sollen sie nicht heiraten?

Sir Robert Chiltern: Artur kann Mabel nicht die Liebe bringen, die sie verdient.

Lord Goring: Was für Gründe hast du für deine Behauptung?

Sir Robert Chiltern nach einer Pause: Verlangst du wirklich, daß ich dir das sage?

Lord Goring: Ganz gewiß.

Sir Robert Chiltern: Wie du willst. Als ich dich gestern abend aufsuchte, fand ich Mrs. Cheveley in deiner Wohnung versteckt. Es war zwischen zehn und einhalb elf Uhr abends. Ich möchte nicht gerne mehr sagen. Deine Beziehungen zu Mrs. Cheveley gehen mich, wie ich dir schon gestern abend erklärte, absolut nichts an. Ich weiß, daß du einst mit ihr verlobt gewesen bist. Der Zauber, den sie damals auf dich ausübte, scheint dich neuerlich berückt zu haben. Du sprachst gestern abend zu mir von ihr als einer Frau, die frei von Schuld und Fehle sei, einer Frau, die du verehrst und achtest. Das kann sein, aber ich kann die Zukunft meiner Schwester nicht in deine Hand geben, das wäre schlecht von mir, es wäre ungerecht, infam gegen sie gehandelt.

Lord Goring: Ich habe darauf nichts zu sagen.

Lady Chiltern: Robert, es war nicht Mrs. Cheveley, die Lord Goring gestern abend erwartete.

Sir Robert Chiltern: Nicht Mrs. Cheveley. Wer war es denn?

Lord Goring: Lady Chiltern!

Lady Chiltern: Es war deine Frau, Robert. Gestern nachmittag sagte mir Lord Goring, ich möge, wann immer ich in Verzweiflung sei, seinen Beistand anrufen, da er unser ältester und bester Freund sei. Später dann, nach der entsetzlichen Szene in diesem Zimmer, schrieb ich ihm ein paar Zeilen des Inhalts, daß ich ihm vertraue, seiner Hilfe bedürfe, zu ihm kommen werde, um seinen Rat und seinen Beistand in Anspruch zu nehmen. Sir Robert Chiltern zieht den Brief aus seiner Tasche. Ja, diesen Brief. Ich bin dann zuletzt doch nicht zu Lord Goring gegangen. Ich fühlte, daß Hilfe nur aus uns selbst kommen könne. Der Stolz gab mir das ein. Mrs. Cheveley kam; sie stahl den Brief und sandte ihn dir heute anonym zu, damit du denken solltest … O Robert, ich kann nicht aussprechen, was sie damit wollte …

Sir Robert Chiltern: Was, bin ich so tief in euern Augen gesunken, daß ihr glaubtet, ich hätte auch nur für einen Augenblick eure Unbefangenheit anzweifeln wollen? Gertrud, Gertrud, du bist für mich das unbefleckte Abbild alles Guten, und die Sünde kann dich nie erreichen. Artur, du kannst zu Mabel gehen, meine besten Wünsche begleiten dich. Halt, warte noch einen Augenblick. Es ist keine Anrede am Anfang des Briefes. Die geistreiche Mrs. Cheveley scheint dies nicht bemerkt zu haben. Es sollte hier ein Name stehen.

Lady Chiltern: Laß mich den deinen hinschreiben. Du bist es, dem ich vertraue, und dessen ich bedarf, du und niemand anderer.

Lord Goring: Gut, Lady Chiltern, aber ich glaube, ich möchte doch meinen Brief zurückhaben.

Lady Chiltern lächelnd: Nein, Sie sollen Mabel bekommen. Nimmt den Brief und schreibt den Namen ihres Mannes darauf.

Lord Goring: Hoffentlich hat Mabel unterdessen ihre Gesinnung nicht gewechselt, es sind schon fast zwanzig Minuten, seitdem ich sie zuletzt gesehen habe. Mabel Chiltern und Lord Caversham treten ein.

Mabel Chiltern: Lord Goring, ich finde die Konversation Ihres Vaters bedeutend veredelnder als Ihre. In Zukunft will ich mich nur mit Ihrem Vater unterhalten, und zwar immer unter dem gewöhnlichen Palmenbaum.

Lord Goring: Liebling! Küßt sie.

Lord Caversham sichtlich aus der Fassung gebracht: Was soll das heißen? Du willst doch nicht sagen, daß diese reizende, bezaubernde junge Dame so töricht war, dich zu erhören?

Lord Goring: Gewiß, Papa! Und Chiltern war vernünftig genug, den Sitz im Ministerium zu akzeptieren.

Lord Caversham: Bin sehr erfreut, das zu hören, Chiltern … Gratuliere Ihnen, Sir. Wenn das Land nicht noch auf den Hund oder die Radikalen kommt, so sehen wir Sie noch eines schönen Tages als Ministerpräsidenten. Mason tritt ein.

Mason: Das Lunch ist serviert, Mylady. Mason ab.

Lady Chiltern: Sie bleiben doch zum Lunch, Lord Caversham?

Lord Caversham: Mit Vergnügen. Dann will ich Sie nach Downing Street bringen, Chiltern. Ihnen steht eine große Zukunft bevor, eine große Zukunft. Wollte, ich könnte das auch von dir sagen. Zu Lord Goring: Aber deine Karriere wird sich wohl ganz in deinen vier Wänden abspielen.

Lord Goring: Jawohl, Papa, ich ziehe die Hauskarriere vor.

Lord Caversham: Und wenn du nicht ein idealer Gatte dieser jungen Dame wirst, will ich dich enterben.

Mabel Chiltern: Ein idealer Gatte? O ich glaube, das habe ich nicht gerne. Es klingt wie aus einer anderen Welt.

Lord Caversham: Wie soll er also nach Ihrem Wunsche sein, liebes Kind?

Mabel Chiltern: Er soll sein, wie er will. Alles, was ich will, ist … ist … ihm ein echtes Weib zu werden.

Lord Caversham: Mein Wort darauf, darin liegt eine gute Portion Vernunft, Lady Chiltern. Sie verlassen alle das Zimmer mit Ausnahme Sir Robert Chilterns. Er sinkt in einen Sessel und gibt sich seinen Gedanken hin. Nach einer kleinen Weile erscheint Lady Chiltern, um nach ihrem Gatten zu sehen.

Lady Chiltern sich über die Lehne des Sessels beugend: Willst du nicht kommen, Robert?

Sir Robert Chiltern ihre Hand ergreifend: Gertrud, ist es Liebe, was du für mich fühlst, oder ist es nur Mitleid?

Lady Chiltern küßt ihn: Liebe, Robert, Liebe und nur Liebe! Für uns beide beginnt ein neues Leben.

Vorhang.